Von Wolfram Wette
Heinrich Heine, der große deutsche Dichter, lässt in seiner Tragödie „Almansor“ einen Moslem, der um 1500 beobachtete, dass christliche Ritter nach der Eroberung der spanischen Stadt Granada auch einen Koran verbrannten, den folgenden Satz sagen:
„Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen." 1
Häufig wurde dieses Heine-Zitat als prophetisch für die Bücherverbrennung im nationalsozialistischen Deutschland im Mai und Juni 1933 angesehen. Heute kann man es auf vielen Mahnmalen und Gedenkstätten lesen, zum Beispiel in Berlin, Bonn, Frankfurt/Main und anderen großen Städten.
Wie jede Schülerin und jeder Schüler lernt, haben nationalsozialistische Studenten in der Frühphase der NS-Herrschaft im Namen einer völkisch ausgerichteten Politik öffentliche Bücherverbrennungen inszeniert. Sie waren Teil einer seit März 1933 laufenden „Aktion wider den undeutschen Geist“. Zehntausende Bücher, die den Nazis als politisch missliebig galten, wurden in ritualisierten Demonstrationen öffentlich verbrannt.2 Zugleich ging das NS-Regime daran, jüdische, marxistische, pazifistische und andere oppositionelle oder politisch unliebsame Schriftsteller systematisch zu verfolgen und außer Landes zu treiben.
Da diese Aktionen vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund organisiert wurden, wird noch heute vielfach angenommen, derartige Bücherverbrennungen habe es nur in den deutschen Universitätsstädten gegeben. Tatsächlich organisierte die braune Studentenschaft solche Aktionen in insgesamt 21 deutschen Universitätsstädten. Weniger bekannt ist, dass die öffentlichen Bücherverbrennungen auch in vielen anderen Groß- und Kleinstädten nachgeahmt wurden, organisiert von der örtlichen NSDAP und der Hitler-Jugend.3
Einer dieser Orte war die kleine Stadt Waldkirch mit ihren damals etwa 6000 Einwohnern. Durch die Tageszeitung „Der Elztäler“ und andere Blätter aus der Region sind wir über die Planung und Durchführung der Waldkircher „Kampfwoche gegen Schmutz und Schund“ mit dem Höhepunkt der öffentlichen Bücherverbrennung gut unterrichtet. Den Startschuss gab die örtliche Hitlerjugend, die im „Elztäler“ den folgenden – von übergeordneter Stelle vorformulierten - Aufruf veröffentlichte:
„Diese Woche soll in ganz Baden mit dem kulturellen Schmutz und Schund der letzten 14 Jahre aufgeräumt werden. Die Herrschaft der allerchristlichsten Partei, des Zentrums, verhinderte es nicht, dass täglich reine Seelen deutscher Jugend mit den Erzeugnissen jüdisch-marxistischer und liberalistischer Unmoral vergiftet wurden. Aus der Jugend heraus kommt nun die Abwehr gegen diese Literaten, deren einzige Freude es ist, im Schmutz herumzuwühlen. Die Hitlerjugend sammelt diese Woche die unten angeführten Schriften und wird sie in großen Jugendkundgebungen auf den Marktplätzen der Städte verbrennen. Jeder anständige Deutsche, der auf irgendeine Weise einmal ein solches Buch erhalten hat, wird aufgefordert, dasselbe den Sammelkolonnen der Hitlerjugend zu übergeben. Wir wollen restlos und ohne ihm eine Träne nachzuweinen mit dem brechen, was unser Volk an die Grenze des sittlichen Zerfalls geführt hat.“4
Dem zitierten Aufruf im „Elztäler“ war eine Bücherliste5 angehängt, die auch Titel von Zeitschriften enthielt: Das Magazin, Revue des Monats, sämtliche Hefte „Hundert Takte Tanz“ und andere Schlagerliteratur, dann die sämtlichen Werke der nachfolgenden Verfasser: Henry Barbusse, Alfred Schirokauer, Upton Sinclair, Max Brodt, Jakob Wassermann, Arnold Zweig, Vicky Baum, Walter Hasenclever, Joachim Ringelnatz, August Bebel, Erich Kästner, Ferdinand Lassalle, A. Landsberger, Lenin, Erich Maria Remarque, Karl Liebknecht, Karl Marx, Alfred Kerr, Emil Ludwig, Heinrich Mann, Ludwig Renn, Carl Zuckmayer, Stefan Zweig, Walter Rathenau, Th. H. van de Velde und andere.6
Am 16. Juni 1933, einem Freitag, sammelte die Waldkircher Hitler-Jugend die diskriminierten Bücher ein, indem sie von Haus zu Haus ging und deren Bewohner aufforderte, dieselben in eine geschlossene Kiste mit einem Schlitz als Einwurfsöffnung zu stecken. Wir wissen leider nicht, in welchem Umfang die HJ bei ihrer Suche nach „undeutschen Büchern“ in Waldkirch fündig wurde und wie viele Menschen sich weigerten, dem Aufruf Folge zu leisten.
Anderntags sollte dann die feierliche Bücherverbrennung auf dem Waldkircher Marktplatz stattfinden. Geplant war ein Programm, das mit dem Lied „O Deutschland hoch in Ehren“ begann. Es sollten die Verlesung eines Manifests und eine Ansprache des Gefolgschaftsführers der Hitler-Jugend, Rudi Keller, folgen, sowie die Übertragung einer Rede des Kultusministers Dr. Wacker in Karlsruhe.7 Nach dem Lied „Volk ans Gewehr“ sollte zum Abschluss die Verbrennung der Bücher folgen.8
Jedoch: Das Wetter spielte nicht mit. Das politische Spektakel musste mehrfach verschoben werden, erst auf den 24. Juni, dann auf den 1. Juli und schließlich noch einmal auf den 8. Juli 1933. An diesem Tag war nicht nur das Wetter endlich besser. Er bot der NSDAP des Bezirks Waldkirch auch die Möglichkeit, die Bücherverbrennung auf den Gipfel des Kandels zu verlegen und sie mit der – alljährlich durchgeführten - Sonnwendfeier sowie mit einem großen Kreistreffen der SA9 zu verknüpfen, den „braunen Scharen Adolf Hitlers“ aus allen Orten des Bezirks.10
Wie wir einem ausführlichen und anschaulichen zeitgenössischen Pressebericht entnehmen können, nahm die Bevölkerung des Städtchens „lebhaften Anteil“ an der diesjährigen Sonnwendfeier. Die „Hauptmasse“ der Teilnehmer sammelte sich am Nachmittag auf dem Waldkircher Marktplatz, der „einem bewegten Heerlager“ glich. „Mit dem vom klingenden Spiel des Musikvereins Kastelburg begleiteten Abmarsch der SA begann der große Aufbruch des Teilnehmerheeres, das teils zu Fuß, teils mittels Last- und Personenwagen der Höhe des Kandels zustrebte. […] Besonders anstrengend war der Aufstieg für die SA, die mit schwerem Tornister und schwerer Uniform belastet, den Marsch unternehmen musste.“ Auf der Höhe des Kandels entwickelte sich bald ein „froh bewegtes Leben“. Bei Rucksackverpflegung und und Getränk entschädigte man sich für die Anstrengungen des Aufstiegs. Dazu ertönten die Weisen der Kastelburgmusik und die einer Tanzkapelle aus Gutach. Gegen 23 Uhr formierte sich dann der Zug, „der unter Vorantritt der Musik, die Scharen der SA und der übrigen Teilnehmer in die Nähe der Pyramide führte, wo ein mächtiger Holzstoß des zündenden Funkens wartete“. In die Nacht hinaus ertönte das Lied „Flamme empor“, und „sausend fuhr der Nachtwind in den zu heller Glut sich entfachenden Holzstoß“. In weitem Kreis standen die Teilnehmer um das Feuer geschart.
Dann folgte die Bücherverbrennung: „Ein kraftvoll und mit Empfindung gesprochener Prolog von SA-Mann Launer leitete über zur Feuerrede von Kreisleiter Kellmayer, der den Mächten der Finsternis, den dunklen Gewalten, die dem deutschen Volk in langen Jahren der Vergangenheit das Letzte am eigenen völkischen Leben und Eigenart zu rauben versuchten, den neuen Geist des neuen Deutschlands gegenüberstellte mit dem Gelöbnis, diesen neuen Hitlergeist ewig im Herzen zu bewahren und nicht zu erlahmen im Dienste dieses allerneuen Geistes. Zum Zeichen, dass das verzehrende Feuer alles vernichten möge, was an deutscher Art frevelnd sich zu vergehen versucht, übergab er den lodernden Flammen die von der Hitlerjugend gesammelten Bücher und Schriften undeutscher Art, unter denen auch die ‚Waldkircher Volkszeitung‘ nicht fehlte, die mit einem besonders kräftigen ‚Nachruf‘ den Weg ins Feuer nahm, unter dem lauten Beifall der vielen, vielen Teilnehmer. Flammensprüche der verschiedenen Ortsgruppen der NSDAP, ein Prolog eines Hitlerjungen, das machtvoll zum Himmel ansteigende Horst Wessel-Lied, sowie eine mahnende Ansprache des Kreisschulungsleiters Hamann bildeten den weiteren Inhalt der Feier, die mit dem Deutschlandlied ihr erhebendes Ende nahm. Nachdem mit Funkenstieben und Prassen der Holzstoß zusammengestürzt war, folgte der Sprung durchs Feuer.“
Der NSDAP-nahe „Elztäler“ zog eine glänzende Bilanz: „Die riesige Anteilnahme aller Kreise an der Sonnwendfeier hat gezeigt, dass sie ihr ein Bedürfnis war, und sie soll ein gutes Zeichen für die Zukunft sein.“11 Auch die „Freiburger Zeitung“ ließ es sich nicht nehmen, über die Sonnwendfeier auf dem Kandel und die damit verknüpfte „Verbrennung von Schund- und Schmutzliteratur“ zu berichten.12 Der Beobachter dieser Zeitung bestätigte, dass die Veranstaltung „in großer Zahl“ besucht wurde und sprach von einer „riesigen Zuschauermenge“. Er strich zudem die Rolle von Kellmayer heraus: Dieser habe eine „zündende Rede“ gehalten über die „Kämpfer im brauen Ehrenkleid“, die - den Kämpfern des Weltkrieges gleich - dem Ruf folgten: Alles für das deutsche Volk! Das habe der Redner „mit markigen Worten in die Herzen und Hirne seiner Zuhörer eingehämmert“.
Man muss sich klar machen, dass diese zerstörerische Aktion ein knappes halbes Jahr nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten stattfand, also noch in der Phase der Machtergreifung, die erst 1934 abgeschlossen wurde. Mit den oben erwähnten Namen missliebiger Schriftsteller fixierte die NSDAP die Feinde im Innern: Juden, Sozialisten, Kommunisten, Pazifisten, Liberale und Zentrumsanhänger. Diese galt es aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben auszuschalten. Auf dem Weg in die Diktatur sollte nur eine einzige Partei erhalten bleiben: die Einheitspartei NSDAP. Dem für eine Demokratie konstitutiven Meinungspluralismus sollte ein Riegel vorgeschoben werden, um das politische Programm eines völkischen Machtstaates unter einer einheitlichen Führung durchsetzen zu können. Unübersehbar und unüberhörbar war der militaristische Zuschnitt der Waldkircher Bücherverbrennung in der Sonnwendfeier: Die SA uniformiert mit schwerem Tornisters, die NSDAP-Funktionäre und die Hitler-Jungen uniformiert, das Lied „Volk ans Gewehr“, die Mitglieder der Musikkapellen in Uniform, das destruktive Symbol des verzehrenden Feuers, die symbolische Vernichtung hervorragender Produkte des menschlichen Geistes - das alles eingebettet in ein Wahrzeichen der heimischen Landschaft, den Kandel, in die tradierten Bräuche der Region, nämlich das Sonnwendfeuer. So dürfte es der Waldkircher NSDAP mit diesem Spektakel des Sommers 1933 gelungen sein, an die Traditionen und Befindlichkeiten der Menschen anzuknüpfen und gleichzeitig einen Teil ihres innenpolitischen Programms zu realisieren, nämlich die Idee einer Volksgemeinschaft - bei gleichzeitiger Ausgrenzung der innenpolitischen Feinde - in den Emotionen und den Köpfen der Menschen zu verankern.13
Der Text wurde uns freundlicherweise von Wolfram Wette zur Verfügung gestellt. Er ist erstmals im Buch "„Hier war doch nichts!“ - Waldkirch im Nationalsozialismus" im Donat Verlag erschienen. Vielen Dank