von Kai Sauer.
Vor gut 100 Jahren wurde in Weimar unter denkbar ungünstigen Umständen die erste deutsche Republik gegründet. Zunächst war die Zusammenkunft der deutschen Nationalversammlung in der ruhigen Goethestadt am 6. Februar 1919 allgemein als Ehre empfunden worden. Die Erleichterung über das Ende des Krieges und der Agonie des Kaiserreichs verband sich mit der gespannten Erwartung einer anderen, einer besseren Zukunft. Die Auseinandersetzung mit dieser ersten deutschen Demokratie hat in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit deutlich an Sichtbarkeit gewonnen. Dafür standen beispielhaft die Feierlichkeiten im Deutschen Nationaltheater, an denen am 6.2.2019 die gesamte deutsche Staatsspitze teilnahm, sowie die Tätigkeit des Vereins Weimarer Republik e.V., die im Jubiläumsjahr in der Eröffnung des Hauses der Weimarer Republik am Theaterplatz ihren ersten Höhepunkt fand.
Zu den unrühmlichen Kapiteln der Geschichte des Landes Thüringen zählt aber auch das frühe Erstarken der republikfeindlichen Kräfte während der Weimarer Republik (1919-1933). Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Berlin am 30.1.1933 war für Weimar zwar einerseits eine Zäsur, aber andererseits auch trauriger Höhepunkt einer Entwicklung, die sich in Thüringen schon länger anbahnten1. 1924 kam es zu Landtagswahlen, nachdem die Reichsregierung die SPD-KPD-Regierung durch den Einmarsch der Reichswehr in Thüringen aus dem Amt gejagt hatte. „Die bürgerlichen Parteien wie DVP, DDP und der reaktionäre Landbund haben sich im „Thüringer Ordnungsbund“ zusammengeschlossen. Ihre Parole lautet „Links abwählen“.“2 Dieser Bund erreichte 48%, brauchte also Unterstützung im Parlament, da ihm die absolute Mehrheit fehlte. „Am 21. Februar wird mit den Stimmen des Ordnungsbundes und der Völkischen das Kabinett unter dem DVP-Mann Richard Leutheußer gewählt. Damit ist erstmals das Tabu in Deutschland gebrochen: Eine bürgerliche Regierung lässt sich von Völkischen und Nationalsozialisten tolerieren.“3 Die sogenannte Vereinigte Völkische Liste beeinflusste die Landespolitik in der Folge nachhaltig. Ihr Anführer Artur Dinter machte schon damals klar, wohin der Weg führen sollte: „Wir Völkischen ziehen daher nur notgedrungen in die Parlamente ein, um diese Parlamente, solange sie noch bestehen, wenigstens zu kontrollieren und nach Möglichkeit dem Mehrheitsunfuge zu steuern.“4
Das reichsweite Verbot der NSDAP nach dem Hitlerputsch am 9. November 1923 wurde von der „bürgerlichen“ Thüringer Landesregierung schon im März 1924 aufgehoben. Hitler erhielt hier wieder Rederecht, und die NSDAP durfte noch im selben Jahr im Deutschen Nationaltheater ihren Reichsparteitag abhalten – und damit jenen Saal symbolisch in Besitz nehmen, in dem sich 5 Jahre zuvor Deutschland seine erste demokratische Verfassung gegeben hatte.
In einer ähnlichen politischen Konstellation kam es im Januar 1930 dann im Land Thüringen erstmals in Deutschland sogar zu einer direkten Regierungsbeteiligung der NSDAP. Wieder fehlten den Bürgerlichen einige Sitze zur eigenen Mehrheit, und „sie scheuen die Kosten und die Anstrengungen eines neuen Wahlkampfes, der kaum ein anderes Ergebnis bringen würde“5. Hitler schaltete sich persönlich in Weimar in die Koalitionsverhandlungen ein und erreichte, dass der nach seiner Beteiligung am Hitler-Putsch wegen Hochverrats verurteilte Führer der NSDAP-Reichstagsfraktion Wilhelm Frick das strategisch wichtige Innen- und Volksbildungsministerium erhielt.
Frick unterstrich sein Kulturverständnis mit dem berüchtigten Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“ vom 5. April 1930, in dem er gegen „die Verseuchung des deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur“6 vorzugehen ankündigte. In der Folge wurden aus dem öffentlichen Raum Bilder und Kunstwerke von Künstlern wie Barlach, Klee, Dix und von jenen des Bauhauses entfernt. Zu dieser Aussonderung „entarteter Kunst“ gehörte es auch, dass die Aufführung zahlreicher Filme und Theaterstücke verboten und aus den öffentlichen Bibliotheken viele Bücher beschlagnahmt wurden. In Weimar, der viel beschworenen Stadt der Kultur und des Buches, haben Zensur, Intoleranz und Unkultur somit bereits frühe Blüten getrieben.
Erste Bücherverbrennungen hatte es in Deutschland 1933 zunächst im Kontext des politischen Terrors der SA und SS gegeben7. Bei der Besetzung und Ausplünderung von Partei- und Gewerkschaftshäusern wurde der vorgefundene Literatur- und Schriftenbestand oft verbrannt, ebenso wie Plakate, Fahnen und Einrichtungsgegenstände. Eine zweite Phase setzte mit der so genannten „Aktion wider den undeutschen Geist“ am 13. April ein und gipfelte in den zeitgleichen und über das ganze Reich verteilten Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933.
Die reichsweiten Bücherverbrennungen waren von langer Hand vorbereitet worden. Federführend waren dabei vor allem die Deutsche Studentenschaft und die Hitlerjugend. Dies und die Unterstützung durch die bereits in nationalsozialistischer Hand befindlichen staatlichen und öffentlichen Stellen führte zu einem hohen Organisations- und Vernetzungsgrad bei der Vorbereitung. Man hatte „schwarze Listen“ mit den missliebigen Schriftstellern veröffentlicht, Beschlagnahmungen durchgeführt und schließlich die makabren Feiern organisiert. Nur in Württemberg hatte der Bezirksführer des NS-Studentenbundes und dortige Führer der studentischen SA, Standartenführer Gerhard Schumann, die Aktion untersagt. Studenten, Professoren und Bibliothekare im Rest Deutschlands hatten nichts dabei gefunden, sich zu dieser Aktion „wider den undeutschen Geist“ zusammenzutun. Nicht nur Goebbels und andere prominente Vertreter der Nationalsozialisten, sondern auch renommierte Germanistik-Professoren traten dabei als Redner an den Scheiterhaufen auf.
Als am 10. Mai 1933 in vielen Städten Scheiterhaufen errichtet und die Werke zahlreicher Autoren öffentlich verbrannt wurden, blieb es in Weimar wie auch im Rest Thüringens zunächst ruhig. Dass aber auch in Thüringen entsprechende Vorbereitungen getroffen worden waren, ergibt sich aus einer Veröffentlichung der Landesregierung von eben jenem 10. Mai 1933 in der Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung Deutschland. Die „Richtlinien für die thüringischen Volksbüchereien“ geben „eine vorläufige Anweisung über die vorerst zu ergreifenden Maßnahmen“ und zählen dann auf, welche „Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, die ihrem Charakter nach im einzelnen oder als Ganzes geeignet sind, das unternommene Werk der nationalen Erziehung des Volkes zu stören, zu verzögern oder zu verhindern“ und daher aus den öffentlichen Bibliotheken zu entfernen seien. Es liest sich wie eine Handreichung zur Auswahl zu verbrennender Bücher. Neuanschaffungen sollten „die Grundideen des neuen Stammes: Volk und Rasse, Ehr und Wehr, Verbundenheit aller Volksgenossen und soziale Gerechtigkeit“ verkörpern. Bibliothekaren, die damit nicht einverstanden waren, wurde nahegelegt, ihre Ämter niederzulegen. Hohle Phrasen einer primitiven Ideologie wurden an die Stelle einer pluralistischen Kultur gesetzt.
In Thüringen gab es eine erste Bücherverbrennung in Hirschberg/Saale am 2. Mai, es folgten Mühlhausen am 20. Mai und Hildburghausen am 22. Mai.8 Einen guten Monat später, am 22. Juni 1933, veröffentlichte dann die Weimarische Zeitung eine Meldung unter der Überschrift „Sonnenwendfeier und Bücherverbrennung im DHV“9, was im Kontext nicht sehr erstaunt, wo es aber überraschenderweise um ein Ereignis im im beschaulichen Niedergrunstedt geht:
Der Deutsche Handlungsgehilfen-Verband, N.S.A., hielt seine übliche Sonnenwendfeier auf der Höhe bei Niedergrunstedt. Außer den Mitgliedern war wieder ein großer Teil der Einwohnerschaft Niedergrunstedts zu der Feierstunde erschienen. Nach dem gemeinsamen Gesang des Liedes „Wir treten zum Beten“ sprach am brennenden Holzstoß der Ortsgruppenvorsteher Held. Der DHV führt seit Jahrzehnten einen Kampf gegen den undeutschen Geist, gegen die Verseuchung der Volksseele durch jüdische Literaten. 14 Jahre ist das deutsche Volk systematisch durch jüdische Schriftsteller vergiftet worden. Mit dieser Schundliteratur ist nunmehr endgültig aufgeräumt worden. Die deutsche Jugend hat zuerst gespürt, dass ihnen Dichter wie Dwinger, Steguweit, Schäfer, Wehner mehr zu sagen haben als z.B. ein Remarque. Mit den Worten: „Undeutscher Geist verbrenne!“ übergab der Ortsgruppenvorsteher den Flammen einige Schundwerke.
Das gemeinsam gesungene Lied „Flamme empor“ leitete über zur Ansprache des Bildungsobmanns Tarlatt. Er führte u.a. aus: Die Sonnenwende wurde von den Germanen gefeiert im Glauben an die Reinheit des Lichtes. Gestärkt von der heiligen Flamme, geeinigt in den Stämmen bat man um den Segen des Himmels. Auch unsere Zeit wendet sich ab von der
Hohlheit der Nachkriegsjahre und drängt zu neuen Idealen. Der DHV ist Wegbereiter dieser neuen Zeit.
Nach einigen Gedichtvorträgen wurde der im Weltkrieg gefallenen und der für das dritte Reich gestorbenen Helden gedacht. Den Flammen wurde ein Kranz übergeben. Das Horst-Wessel-Lied beendete die Feierstunde.
Während die Bücherverbrennung beim Blick auf die politische Entwicklung in Weimar insgesamt nicht überraschen kann, ist es doch bemerkenswert, dass sie in der Feldmark eines Dorfes einige Kilometer vor den Toren der Stadt stattfand und nicht beispielsweise vor dem Goethe-Haus auf dem Frauenplan. Angesichts der skrupellosen Vereinnahmung des Dichters durch die Nazis hätten diese das eventuell sogar noch reichsweit propagandistisch ausnutzen können. Gerade an dieser Stelle hätte sich solch eine große Aufmerksamkeit vielleicht aber auch gegen die Brandstifter richten können, vermutet Bißmann:
„Man ist jedoch geneigt zu vermuten, dass eine öffentlichkeitswirksame Bücherverbrennung im Zentrum der Goethe- und Schillerstadt stärker als in anderen Städten als kulturloser und barbarischer Akt empfunden worden wäre.“10
Eher ist es jedoch wahrscheinlich, dass der lokale Akteur, der DHV, einfach an eine Tradition anknüpfte, die ihn jährlich zur Sonnenwendfeier nach Niedergrunstedt führte. Tatsache ist jedenfalls, dass sich die Bücherverbrennung auch und gerade in Weimar/Niedergrunstedt in den historischen Kontext einfügte, aber trotzdem nicht für Propaganda genutzt wurde:
Dass viele Weimarer Bürger von der Bücherverbrennung in Niedergrunstedt, in ihrer unmittelbaren Nähe, Notiz nahmen, scheint dagegen mehr als fraglich, wurde doch - von zwei kurzen Meldungen in der Tagespresse abgesehen -, nicht darüber berichtet. Die sonst so wortgewaltige Thüringische Staatszeitung, das offizielle Parteiorgan der NSDAP in Thüringen, öffnete für dieses Ereignis erst gar nicht die Spalten ihres Lokalteils.11
Begünstigt wurde der geringe publizistische Widerhall vielleicht auch durch eine zeitliche Koinzidenz verschiedener Ereignisse in der näheren Umgebung. Am Wochenende des 17./18. Juni 1933 hatten in Erfurt der NS-Gautag mit Zehntausenden Teilnehmern und in Weimar der Mitteldeutsche Handwerkertag anlässlich der Hundertjahrfeier des Gewerbevereins Weimar stattgefunden, worüber umfangreich berichtet wurde. Diverse Sonnwendfeiern fanden parallel zu jener von Niedergrunstedt statt.
Der Scheiterhaufen von Niedergrunstedt gehört in die dritte Phase der Bücherverbrennung in Deutschland 1933. Hier sind vor allem Aktionen der Hitlerjugend zwischen Ende Mai und Oktober 1933 im Rheinland und in Baden zu nennen. Daneben traten aber auch andere Akteure wie der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband12.
„In die dritte Phase sind noch eine Reihe weiterer Bücherverbrennungen einzuordnen, die nach momentanem Kenntnisstand keiner ortsübergreifenden Aktion zuzurechnen sind, sondern auf Initiativen der entsprechenden Akteure in den jeweiligen Orten oder Regionen selbst zurückzuführen sind. Auffällig ist jedoch die häufig auftretende zeitliche Nähe zu den so genannten Sonnwendfeiern um den 21. Juni 1933.“13
Warum aber musste der 21. Juni als schwarzer Tag der Ortsgeschichte in die Annalen Niedergrunstedts eingehen? Wer war der DHV, der hinter der Verbrennung steckte, welches Echo fand sie bei den Dorfbewohnern? Viele Fragen stellen sich hier. Einige können beantwortet werden, zu anderen könnte wohl nur eine Befragung von Zeitzeugen vor Ort Hinweise geben14.
Der Deutschnationale Handlungs-Gehilfenverband (DHV), dessen Weimarer Ortsgruppe als Veranstalter der Sommersonnwendfeier genannt wird, war eine völkisch-antisemitische Gewerkschaft vor allem kaufmännischer Angestellter, die von 1893 bis 1933 bestand15. Der Verband war aus protestantischen Kreisen um den preußischen Hofprediger hervorgegangen und stand schon in seiner Gründungszeit antisemitisch-völkischen Gruppierungen nahe. Im späten Kaiserreich sowie während der Weimarer Republik wuchs der Verband zur bedeutendsten Angestelltengewerkschaft Deutschlands heran. Seit der Revolution vom November 1918 hatte er eine aktive Rolle auf Seite der antirepublikanischen Kräfte gespielt, auch in Weimar:
Der „völkisch-antisemitische“ Deutschnationale Handlungs-Gehilfenverband Weimar gehörte im November 1918 „als Zusatzlobby“ einer reaktionären Bürgerliste von Honoratioren des Kaiserreichs, Parteien der konservativen Rechten und 60 Vereinen des unteren, mittleren und gehobenen Bürgertums an.16
Diese unheilige Allianz Ewiggestriger errang im Gründungsort der ersten deutschen Demokratie bis Mitte der zwanziger Jahre die Meinungsführerschaft. Hier in Weimar propagierte der DHV die von Adolf Bartels mit initiierte „Heimatkunstbewegung“, deren Programm man mit „’heimatverbunden’, ’großstadtfeindlich’, ’antimodernistisch’ und letztendlich auch ’fremdenfeindlich’ bzw. ’antisemitisch’ umschreiben“ kann17. Das Bauhaus als Innovationszentrum der Moderne blieb für viele in der Stadt immer ein ungeliebter, ja verhasster Fremdkörper.
Der DHV machte selber mit „weitreichenden, literarisch orientierten Aktivitäten“18 auf sich aufmerksam. Noch während des Ersten Weltkriegs entwickelte man eine Art DHV-Buchklub, dessen Zweck die Verbreitung „national“ gesonnener Literatur war. Immerhin erreichte man 1930 damit fast 40.000 Abonnenten. Es war somit nicht nur eine Anerkennung der politischen Realität und ein Versuch, die Organisation im Bestand zu sichern, als der DHV sich im April/Mai 1933 freiwillig mit dem neuen nationalsozialistischen Staat gleichschaltete, sondern es war ein Zeichen für die „weitgehende Identifikation mit dessen kultur- und bildungspolitischen Zielen“19. Auch personell gab es eine eindeutige Nähe:
Einige hochrangige NSDAP-Parteimitglieder, wie z.B. der der Weimarer Ortsgruppe entstammende und seit Mai 1933 in der Landeshauptstadt Weimar amtierende Ministerpräsident Willy Marschler, kamen direkt aus dem DHV und bekleideten dort insbesondere nach der „Gleichschaltung" wichtige Positionen.20
Der protestantische Hintergrund des DHV zeigt sich darin, dass die Weimarer Ortsgruppe ihre Feier in Niedergrunstedt mit einem kirchlichen Lied begann. Dass dies anlässlich einer germanischen und damit gänzlich unchristlichen Sonnwendfeier geschah, ist für die völkische Bewegung jener Zeit nicht ungewöhnlich. Die Deutschen Christen (DC), die vorgaben christliches und nationalsozialistisches Gedankengut miteinander zu verbinden, standen gerade in ihrer thüringischen Ausprägung pseudogermanischen Glaubenselementen nahe. Sonnwendfeiern fanden Anfang der dreißiger Jahre regelmäßig ihr Publikum, so etwa in Ettersburg oder am später nach Kriegsende abgerissenen Bismarckturm auf dem Ettersberg.
Ein Blick auf die überlieferten Äußerungen bei der Feier in Niedergrunstedt illustriert diese Geisteshaltung. Sie zeigte sich auch deutlich an jenen Autoren, die der DHV-Ortsgruppenvorsteher als Beispiele einer neuen deutschen Literatur nannte:
Es ergibt sich ein eindeutiges Bild davon, was die Autoren dieser Literatur „deutschen Geistes“ der Jugend zu sagen hatten: Sie verherrlichten den Krieg und propagierten einen aggressiven Nationalismus. Noch deutlicher wird diese Stoßrichtung im Bericht der Allgemeinen Thüringer Landeszeitung Deutschland über die Bücherverbrennung in Niedergrunstedt. Hier sind nicht wie im Artikel in der Weimarischen Zeitung allgemein vermeintlich „jüdische Schriftsteller“ das Feindbild, sondern es werden konkrete Namen genannt. Hier ist ersichtlich, dass sich der Weimarer DHV bei seiner Veranstaltung am Vorbild der Bücherverbrennungen vom 10. Mai orientierte. Der Artikel führt folgende Autoren auf:
„Vicky Baum, Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Ernst Lissauer, Emil Ludwig, Erich Maria Remarque, Roda-Roda, Arthur Schnitzler, Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Franz Werfel und Stephan Zweig.“25
Typisch ist die auch vom Weimarer DHV-Ortsgruppenführer Held betonte besonders starke Ablehnung von Erich Maria Remarque und dessen Antikriegsroman Im Westen nichts Neues (1929)26. Und nicht nur inhaltlich folgt die Veranstaltung dem Zeitgeist.
„Überhaupt folgte das Ritual der Niedergrunstedter Bücherverbrennung am Abend des 21. Juni 1933 mit Feuersprüchen, Gedichten und Liedern der Programmatik der „Aktion wider den undeutschen Geist“.“27
Die Weimarer Ortsgruppierung des DHV scheint sich vor allem auf dieser „kultur- und literaturpolitischen“ Ebene engagiert zu haben:
Die Weimarer Sektion des DHV gehörte mit 1.165 Kaufleuten (Ende 1933) zu den mittleren bis großen Ortsgruppen. Trotz der verhältnismäßig hohen Mitgliederzahl finden sich im Vergleich zu anderen Ortsgruppen im „Bezirk Mitteldeutschland" insgesamt nur wenige Hinweise, die auf eine rege Betriebsamkeit im Weimarer DHV schließen lassen. Die recht spärlichen Meldungen aus Weimar zeigen dennoch eine eindeutige Tendenz: Nahezu alle Veranstaltungen des hiesigen DHV standen im Zusammenhang mit „kulturpolitischen" Aktivitäten. So fand etwa nur wenige Wochen nach der Bücherverbrennung von Niedergrunstedt unter der Ägide des Weimarer DHV-Bildungsobmanns eine literarische Veranstaltung des Verbandes in Weimar statt. Zum Thema „Junge Dichter im neuen Deutschland" las Reinhold Vesper, Führer der Thüringer Jungbuchhändler und Bruder des völkischen Schriftstellers Will Vesper, aus der Trilogie der „Sibirischen Tagebücher" von Edwin Erich Dwinger. Vesper hatte daneben einen entscheidenden Anteil am Aufbau der örtlichen Sektion Buchhandel innerhalb des Weimarer DHV gehabt. Auf seine Initiative hin fand auch im benachbarten Jena eine Veranstaltung zu den kulturpolitischen „Aufgaben des Buchhändlers in unserer Zeit" statt.28
Die Formulierung in dem Zeitungsartikel über die Bücherverbrennung legt die Annahme nahe, dass die Ortsgruppe Weimar des DHV schon öfter Sonnwendfeiern in Niedergrunstedt begangen hatte. Daran nahmen die Einwohner des Ortes offenbar 1933 wie auch zuvor regen Anteil, denn es heißt, der DHV „hielt seine übliche Sonnenwendfeier auf der Höhe bei Niedergrunstedt. Außer den Mitgliedern war wieder ein großer Teil der Einwohnerschaft Niedergrunstedts zu der Feierstunde erschienen.“ In der Presse fanden derartige Veranstaltungen vor 1933 allerdings keine Beachtung29, soweit sie tatsächlich in Niedergrunstedt stattgefunden haben sollten30. Grundsätzlich denkbar sind diese Feiern aber, auch in Hinsicht auf die in Niedergrunstedt damals vorhandenen beiden Gaststätten. Wenn somit also vorerst aus lokaler Sicht viele Fragen zur Bücherverbrennung 1933 in Niedergrunstedt unbeantwortet bleiben müssen, ist hingegen ihr symbolischer Gehalt augenfällig.
Der in Weimar seit jeher bestehende Spannungsbogen zwischen Provinzialität und Kultur scheint beispielhaft durch die Bücherverbrennung von Niedergrunstedt, die an der ländlichen Peripherie Weimars stattfand, verkörpert. Während Weimar nach und nach zur „braunen" Hochburg avancierte, hielten seine Bürger an einem absurden Zerrbild der Klassikerstadt fest.31
Im Zusammenhang mit den Bücherverbrennungen von 1933 wird häufig Heinrich Heine zitiert, der im Zusammenhang mit der Verbrennung missliebiger Bücher durch national gesonnene Studenten im Vormärz durchaus prophetisch kritisierte: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“32 Wie sehr Heines Befürchtung über 100 Jahre, nachdem er sie geäußert hatte, Realität werden sollte, dafür steht unter den zahlreichen Orten, an denen 1933 Bücherscheiterhaufen errichtet wurden, gerade auch Niedergrunstedt. Wo auch immer das Feuer hier genau gebrannt haben mag – heute erblickt man von beinahe jeder möglichen Stelle der Dorfflur den Glockenturm des Buchenwaldmahnmals.
Während man heute vergeblich nach Spuren des Feuers von Niedergrunstedt sucht, legt das Krematorium von Buchenwald dagegen noch heute beredt Zeugnis von der zerstörenden Kraft flammenden Hasses ab.33
Die Spuren des Feuers gibt es nicht mehr, sein genauer Ort ist nicht mehr bekannt, und auch die Erinnerung daran war fast verschwunden. Seit mehreren Jahren wird aber inzwischen auch der Niedergrunstedter Bücherverbrennung alljährlich durch eine öffentliche Lesung gedacht. Weimarer Bürger lesen dabei jeweils zum Jahrestag der von den Nationalsozialisten verübten sogenannten „Aktion wider den undeutschen Geist“ im Mai auf dem Theaterplatz aus den Werken „verbrannter Autoren“. Initiatoren dieser Gedenkveranstaltung sind das Weimarer Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus und das Deutsche Nationaltheater.
In Niedergrunstedt fand am 20. Juni 2018 aus Anlass des 85. Jahrestages des Anschlages auf die Freiheit des Wortes eine Veranstaltung in der Mauritiuskirche statt. Die Initiative dazu ging von Johannes Bock vom Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus aus. Veranstalter waren der Kirchgemeindeverband Buchfahrt-Legefeld, zu dem Niedergrunstedt gehört, sowie von der Literarischen Gesellschaft Thüringen. Im November 2018 wurde in Niedergrunstedt am Lyonel-Feiniger-Radweg am Hang in Richtung Gelmeroda ein Apfelbaum zur Erinnerung an das Autodafé „auf der Höhe bei Niedergrunstedt“ gepflanzt.