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Niedergrunstedt

21. Juni 1933 , Unbekannt
Historische Adresse: auf der Höhe bei Niedergrunstedt
Zur „traditionellen Sonnenwendfeier“ des Deutschen Handlungsgehilfen Verband auf der Höhe bei Niedergrunstedt fand eine Bücherverbrennung statt. Der genaue Ort der Verbrennung ist unbekannt. Hier verzeichnet ist der Ort des Gedenkbaumes.

Weimar und die Bücherverbrennung in Niedergrunstedt am 21. Juni 1933

von Kai Sauer.

Vor gut 100 Jahren wurde in Weimar unter denkbar ungünstigen Umständen die erste deutsche Republik gegründet. Zunächst war die Zusammenkunft der deutschen Nationalversammlung in der ruhigen Goe­thestadt am 6. Februar 1919 allgemein als Ehre empfunden worden. Die Erleichterung über das Ende des Krieges und der Agonie des Kaiserreichs verband sich mit der gespannten Erwartung einer anderen, einer besseren Zukunft. Die Auseinandersetzung mit dieser ersten deutschen Demokratie hat in den letz­ten Jahren in der Öffentlichkeit deutlich an Sichtbarkeit gewonnen. Dafür standen beispielhaft die Feier­lichkeiten im Deutschen Nationaltheater, an denen am 6.2.2019 die gesamte deutsche Staatsspitze teil­nahm, sowie die Tätigkeit des Vereins Weimarer Republik e.V., die im Jubiläumsjahr in der Eröffnung des Hauses der Weimarer Republik am Theaterplatz ihren ersten Höhepunkt fand.
Zu den unrühmlichen Kapiteln der Geschichte des Landes Thüringen zählt aber auch das frühe Erstar­ken der republikfeindlichen Kräfte während der Weimarer Republik (1919-1933). Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Berlin am 30.1.1933 war für Weimar zwar einerseits eine Zäsur, aber an­dererseits auch trauriger Höhepunkt einer Entwicklung, die sich in Thüringen schon länger anbahnten1. 1924 kam es zu Landtagswahlen, nachdem die Reichsregierung die SPD-KPD-Regierung durch den Einmarsch der Reichswehr in Thüringen aus dem Amt gejagt hatte. „Die bürgerlichen Parteien wie DVP, DDP und der reaktionäre Landbund haben sich im „Thüringer Ordnungsbund“ zusammenge­schlossen. Ihre Parole lautet „Links abwählen“.“2 Dieser Bund erreichte 48%, brauchte also Unterstüt­zung im Parlament, da ihm die absolute Mehrheit fehlte. „Am 21. Februar wird mit den Stimmen des Ordnungsbundes und der Völkischen das Kabinett unter dem DVP-Mann Richard Leutheußer gewählt. Damit ist erstmals das Tabu in Deutschland gebrochen: Eine bürgerliche Regierung lässt sich von Völkischen und Nationalsozialisten tolerieren.“3 Die sogenannte Vereinigte Völkische Liste beeinflusste die Landespolitik in der Folge nachhaltig. Ihr Anführer Artur Dinter machte schon damals klar, wohin der Weg führen sollte: „Wir Völkischen ziehen daher nur notgedrungen in die Parlamente ein, um diese Parlamente, solange sie noch bestehen, wenigstens zu kontrollieren und nach Möglichkeit dem Mehr­heitsunfuge zu steuern.“4
Das reichsweite Verbot der NSDAP nach dem Hitlerputsch am 9. November 1923 wurde von der „bür­gerlichen“ Thüringer Landesregierung schon im März 1924 aufgehoben. Hitler erhielt hier wieder Rede­recht, und die NSDAP durfte noch im selben Jahr im Deutschen Nationaltheater ihren Reichsparteitag abhalten – und damit jenen Saal symbolisch in Besitz nehmen, in dem sich 5 Jahre zuvor Deutschland seine erste demokratische Verfassung gegeben hatte.
In einer ähnlichen politischen Konstellation kam es im Januar 1930 dann im Land Thüringen erstmals in Deutschland sogar zu einer direkten Regierungsbeteiligung der NSDAP. Wieder fehlten den Bürgerli­chen einige Sitze zur eigenen Mehrheit, und „sie scheuen die Kosten und die Anstrengungen eines neuen Wahlkampfes, der kaum ein anderes Ergebnis bringen würde“5. Hitler schaltete sich persönlich in Weimar in die Koalitionsverhandlungen ein und erreichte, dass der nach seiner Beteiligung am Hitler-Putsch wegen Hochverrats verurteilte Führer der NSDAP-Reichstagsfraktion Wilhelm Frick das strate­gisch wichtige Innen- und Volksbildungsministerium erhielt.
Frick unterstrich sein Kulturverständnis mit dem berüchtigten Erlass „Wider die Negerkultur für deut­sches Volkstum“ vom 5. April 1930, in dem er gegen „die Verseuchung des deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur“6 vorzugehen ankündigte. In der Folge wurden aus dem öffentlichen Raum Bilder und Kunstwerke von Künstlern wie Barlach, Klee, Dix und von jenen des Bauhauses entfernt. Zu dieser Aussonderung „entarteter Kunst“ gehörte es auch, dass die Aufführung zahlreicher Filme und Theaterstücke verboten und aus den öffentlichen Bibliotheken viele Bücher beschlagnahmt wurden. In Weimar, der viel beschworenen Stadt der Kultur und des Buches, haben Zensur, Intoleranz und Unkul­tur somit bereits frühe Blüten getrieben.
Erste Bücherverbrennungen hatte es in Deutschland 1933 zunächst im Kontext des politischen Terrors der SA und SS gegeben7. Bei der Besetzung und Ausplünderung von Partei- und Gewerkschaftshäusern wurde der vorgefundene Literatur- und Schriftenbestand oft verbrannt, ebenso wie Plakate, Fahnen und Einrichtungsgegenstände. Eine zweite Phase setzte mit der so genannten „Aktion wider den undeutschen Geist“ am 13. April ein und gipfelte in den zeitgleichen und über das ganze Reich verteilten Bücherver­brennungen am 10. Mai 1933.
Die reichsweiten Bücherverbrennungen waren von langer Hand vorbereitet worden. Federführend wa­ren dabei vor allem die Deutsche Studentenschaft und die Hitlerjugend. Dies und die Unterstützung durch die bereits in nationalsozialistischer Hand befindlichen staatlichen und öffentlichen Stellen führte zu einem hohen Organisations- und Vernetzungsgrad bei der Vorbereitung. Man hatte „schwarze Listen“ mit den missliebigen Schriftstellern veröffentlicht, Beschlagnahmungen durchgeführt und schließlich die makabren Feiern organisiert. Nur in Württemberg hatte der Bezirksführer des NS-Studentenbundes und dortige Führer der studentischen SA, Standartenführer Gerhard Schumann, die Aktion untersagt. Studenten, Professoren und Bibliothekare im Rest Deutschlands hatten nichts dabei gefunden, sich zu dieser Aktion „wider den undeutschen Geist“ zusammenzutun. Nicht nur Goebbels und andere promi­nente Vertreter der Nationalsozialisten, sondern auch renommierte Germanistik-Professoren traten dabei als Redner an den Scheiterhaufen auf.
Als am 10. Mai 1933 in vielen Städten Scheiterhaufen errichtet und die Werke zahlreicher Autoren öffentlich verbrannt wurden, blieb es in Weimar wie auch im Rest Thüringens zunächst ruhig. Dass aber auch in Thüringen entsprechende Vorbereitungen getroffen worden waren, ergibt sich aus einer Veröf­fentlichung der Landesregierung von eben jenem 10. Mai 1933 in der Allgemeinen Thüringischen Lan­deszeitung Deutschland. Die „Richtlinien für die thüringischen Volksbüchereien“ geben „eine vorläufige Anweisung über die vorerst zu ergreifenden Maßnahmen“ und zählen dann auf, welche „Bücher, Zeit­schriften und Zeitungen, die ihrem Charakter nach im einzelnen oder als Ganzes geeignet sind, das unternommene Werk der nationalen Erziehung des Volkes zu stören, zu verzögern oder zu verhindern“ und daher aus den öffentlichen Bibliotheken zu entfernen seien. Es liest sich wie eine Handreichung zur Auswahl zu verbrennender Bücher. Neuanschaffungen sollten „die Grundideen des neuen Stammes: Volk und Rasse, Ehr und Wehr, Verbundenheit aller Volksgenossen und soziale Gerechtigkeit“ verkör­pern. Bibliothekaren, die damit nicht einverstanden waren, wurde nahegelegt, ihre Ämter niederzulegen. Hohle Phrasen einer primitiven Ideologie wurden an die Stelle einer pluralistischen Kultur gesetzt.
In Thüringen gab es eine erste Bücherverbrennung in Hirschberg/Saale am 2. Mai, es folgten Mühlhau­sen am 20. Mai und Hildburghausen am 22. Mai.8 Einen guten Monat später, am 22. Juni 1933, veröf­fentlichte dann die Weimarische Zeitung eine Meldung unter der Überschrift „Sonnenwendfeier und Bücherverbrennung im DHV“9, was im Kontext nicht sehr erstaunt, wo es aber überraschenderweise um ein Ereignis im im beschaulichen Niedergrunstedt geht:

Der Deutsche Handlungsgehilfen-Verband, N.S.A., hielt seine übliche Sonnenwendfeier auf der Höhe bei Niedergrunstedt. Außer den Mitgliedern war wieder ein großer Teil der Ein­wohnerschaft Niedergrunstedts zu der Feierstunde erschienen. Nach dem gemeinsamen Gesang des Liedes „Wir treten zum Beten“ sprach am brennenden Holzstoß der Ortsgrup­penvorsteher Held. Der DHV führt seit Jahrzehnten einen Kampf gegen den undeutschen Geist, gegen die Verseuchung der Volksseele durch jüdische Literaten. 14 Jahre ist das deut­sche Volk systematisch durch jüdische Schriftsteller vergiftet worden. Mit dieser Schundli­teratur ist nunmehr endgültig aufgeräumt worden. Die deutsche Jugend hat zuerst gespürt, dass ihnen Dichter wie Dwinger, Steguweit, Schäfer, Wehner mehr zu sagen haben als z.B. ein Remarque. Mit den Worten: „Undeutscher Geist verbrenne!“ übergab der Ortsgruppen­vorsteher den Flammen einige Schundwerke.
Das gemeinsam gesungene Lied „Flamme empor“ leitete über zur Ansprache des Bildungs­obmanns Tarlatt. Er führte u.a. aus: Die Sonnenwende wurde von den Germanen gefeiert im Glauben an die Reinheit des Lichtes. Gestärkt von der heiligen Flamme, geeinigt in den Stämmen bat man um den Segen des Himmels. Auch unsere Zeit wendet sich ab von der
Hohlheit der Nachkriegsjahre und drängt zu neuen Idealen. Der DHV ist Wegbereiter die­ser neuen Zeit.
Nach einigen Gedichtvorträgen wurde der im Weltkrieg gefallenen und der für das dritte Reich gestorbenen Helden gedacht. Den Flammen wurde ein Kranz übergeben. Das Horst-Wessel-Lied beendete die Feierstunde.

Während die Bücherverbrennung beim Blick auf die politische Entwicklung in Weimar insgesamt nicht überraschen kann, ist es doch bemerkenswert, dass sie in der Feldmark eines Dorfes einige Kilometer vor den Toren der Stadt stattfand und nicht beispielsweise vor dem Goethe-Haus auf dem Frauenplan. Angesichts der skrupellosen Vereinnahmung des Dichters durch die Nazis hätten diese das eventuell sogar noch reichsweit propagandistisch ausnutzen können. Gerade an dieser Stelle hätte sich solch eine große Aufmerksamkeit vielleicht aber auch gegen die Brandstifter richten können, vermutet Bißmann:

„Man ist jedoch geneigt zu vermuten, dass eine öffentlichkeitswirksame Bücherverbrennung im Zentrum der Goethe- und Schillerstadt stärker als in anderen Städten als kulturloser und barbarischer Akt empfunden worden wäre.“10

Eher ist es jedoch wahrscheinlich, dass der lokale Akteur, der DHV, einfach an eine Tradition anknüpfte, die ihn jährlich zur Sonnenwendfeier nach Niedergrunstedt führte. Tatsache ist jedenfalls, dass sich die Bücherverbrennung auch und gerade in Weimar/Niedergrunstedt in den historischen Kontext einfügte, aber trotzdem nicht für Propaganda genutzt wurde:

Dass viele Weimarer Bürger von der Bücherverbrennung in Niedergrunstedt, in ihrer unmit­telbaren Nähe, Notiz nahmen, scheint dagegen mehr als fraglich, wurde doch - von zwei kurzen Meldungen in der Tagespresse abgesehen -, nicht darüber berichtet. Die sonst so wortgewaltige Thüringische Staatszeitung, das offizielle Parteiorgan der NSDAP in Thürin­gen, öffnete für dieses Ereignis erst gar nicht die Spalten ihres Lokalteils.11

Begünstigt wurde der geringe publizistische Widerhall vielleicht auch durch eine zeitliche Koinzidenz verschiedener Ereignisse in der näheren Umgebung. Am Wochenende des 17./18. Juni 1933 hatten in Erfurt der NS-Gautag mit Zehntausenden Teilnehmern und in Weimar der Mitteldeutsche Handwerker­tag anlässlich der Hundertjahrfeier des Gewerbevereins Weimar stattgefunden, worüber umfangreich berichtet wurde. Diverse Sonnwendfeiern fanden parallel zu jener von Niedergrunstedt statt.
Der Scheiterhaufen von Niedergrunstedt gehört in die dritte Phase der Bücherverbrennung in Deutsch­land 1933. Hier sind vor allem Aktionen der Hitlerjugend zwischen Ende Mai und Oktober 1933 im Rheinland und in Baden zu nennen. Daneben traten aber auch andere Akteure wie der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband12.

„In die dritte Phase sind noch eine Reihe weiterer Bücherverbrennungen einzuordnen, die nach momentanem Kenntnisstand keiner ortsübergreifenden Aktion zuzurechnen sind, son­dern auf Initiativen der entsprechenden Akteure in den jeweiligen Orten oder Regionen selbst zurückzuführen sind. Auffällig ist jedoch die häufig auftretende zeitliche Nähe zu den so genannten Sonnwendfeiern um den 21. Juni 1933.“13

Warum aber musste der 21. Juni als schwarzer Tag der Ortsgeschichte in die Annalen Niedergrunstedts eingehen? Wer war der DHV, der hinter der Verbrennung steckte, welches Echo fand sie bei den Dorf­bewohnern? Viele Fragen stellen sich hier. Einige können beantwortet werden, zu anderen könnte wohl nur eine Befragung von Zeitzeugen vor Ort Hinweise geben14.
Der Deutschnationale Handlungs-Gehilfenverband (DHV), dessen Weimarer Ortsgruppe als Veranstalter der Sommersonnwendfeier genannt wird, war eine völkisch-antisemitische Gewerkschaft vor allem kaufmännischer Angestellter, die von 1893 bis 1933 bestand15. Der Verband war aus protestantischen Kreisen um den preußischen Hofprediger hervorgegangen und stand schon in seiner Gründungszeit antisemitisch-völkischen Gruppierungen nahe. Im späten Kaiserreich sowie während der Weimarer Republik wuchs der Verband zur bedeutendsten Angestelltengewerkschaft Deutschlands heran. Seit der Revolution vom November 1918 hatte er eine aktive Rolle auf Seite der antirepublikanischen Kräfte gespielt, auch in Weimar:

Der „völkisch-antisemitische“ Deutschnationale Handlungs-Gehilfenverband Weimar ge­hörte im November 1918 „als Zusatzlobby“ einer reaktionären Bürgerliste von Honoratio­ren des Kaiserreichs, Parteien der konservativen Rechten und 60 Vereinen des unteren, mittleren und gehobenen Bürgertums an.16

Diese unheilige Allianz Ewiggestriger errang im Gründungsort der ersten deutschen Demokratie bis Mitte der zwanziger Jahre die Meinungsführerschaft. Hier in Weimar propagierte der DHV die von Adolf Bartels mit initiierte „Heimatkunstbewegung“, deren Programm man mit „’heimatverbunden’, ’großstadtfeindlich’, ’antimodernistisch’ und letztendlich auch ’fremdenfeindlich’ bzw. ’antisemitisch’ umschreiben“ kann17. Das Bauhaus als Innovationszentrum der Moderne blieb für viele in der Stadt immer ein ungeliebter, ja verhasster Fremdkörper.
Der DHV machte selber mit „weitreichenden, literarisch orientierten Aktivitäten“18 auf sich aufmerk­sam. Noch während des Ersten Weltkriegs entwickelte man eine Art DHV-Buchklub, dessen Zweck die Verbreitung „national“ gesonnener Literatur war. Immerhin erreichte man 1930 damit fast 40.000 Abon­nenten. Es war somit nicht nur eine Anerkennung der politischen Realität und ein Versuch, die Organi­sation im Bestand zu sichern, als der DHV sich im April/Mai 1933 freiwillig mit dem neuen nationalso­zialistischen Staat gleichschaltete, sondern es war ein Zeichen für die „weitgehende Identifikation mit dessen kultur- und bildungspolitischen Zielen“19. Auch personell gab es eine eindeutige Nähe:

Einige hochrangige NSDAP-Parteimitglieder, wie z.B. der der Weimarer Ortsgruppe ent­stammende und seit Mai 1933 in der Landeshauptstadt Weimar amtierende Ministerpräsi­dent Willy Marschler, kamen direkt aus dem DHV und bekleideten dort insbesondere nach der „Gleichschaltung" wichtige Positionen.20

Der protestantische Hintergrund des DHV zeigt sich darin, dass die Weimarer Ortsgruppe ihre Feier in Niedergrunstedt mit einem kirchlichen Lied begann. Dass dies anlässlich einer germanischen und damit gänzlich unchristlichen Sonnwendfeier geschah, ist für die völkische Bewegung jener Zeit nicht unge­wöhnlich. Die Deutschen Christen (DC), die vorgaben christliches und nationalsozialistisches Gedan­kengut miteinander zu verbinden, standen gerade in ihrer thüringischen Ausprägung pseudogermani­schen Glaubenselementen nahe. Sonnwendfeiern fanden Anfang der dreißiger Jahre regelmäßig ihr Publikum, so etwa in Ettersburg oder am später nach Kriegsende abgerissenen Bismarckturm auf dem Ettersberg.
Ein Blick auf die überlieferten Äußerungen bei der Feier in Niedergrunstedt illustriert diese Geisteshal­tung. Sie zeigte sich auch deutlich an jenen Autoren, die der DHV-Ortsgruppenvorsteher als Beispiele einer neuen deutschen Literatur nannte:

  • Erich Dwinger geriet im Ersten Weltkrieg in russische Gefangenschaft und kämpfte in der Folge auf Seite der Weißen im russischen Bürgerkrieg. In den Jahren zwischen 1929 und 1932 wurde seine Romantrilogie Die deutsche Passion veröffentlicht, in der Dwinger seine Kriegserlebnisse in Russ­land verarbeitete. Er setzte sich propagandistisch für das NS-Regime ein und sollte 1935 schließlich zum Reichskultursenator in der Reichskulturkammer ernannt werden21
  • Heinz Steguweit ging künstlerisch und politisch einen sehr ähnlichen Weg. Auch er verarbeitete seine Kriegserfahrungen literarisch und war ein linientreuer Anhänger der nationalsozialistischen Ideolo­gie, die er in mehreren Ämtern vertrat.22
  • Wilhelm Schäfer verfasste vorwiegend Anekdoten und Kurzgeschichten. Er war einer völkisch-natio­nalen Gedankenwelt verhaftet und unterstützte die NS-Kulturpolitik bereitwillig.23
  • Josef Magnus Wehner feierte seinen größten Erfolg 1930 mit seinem Roman Sieben vor Verdun, der gezielt gegen Remarques Im Westen nichts Neues gerichtet war und eine andere, „bessere“ Seite der Kriegserfahrungen herausstellen sollte. Der Roman ist von Kriegsbegeisterung und vor allem einer Verherrlichung des deutschen Soldatentums geprägt. Auch Wehner fand im Dritten Reich einen her­vorgehobenen Platz.24

Es ergibt sich ein eindeutiges Bild davon, was die Autoren dieser Literatur „deutschen Geistes“ der Ju­gend zu sagen hatten: Sie verherrlichten den Krieg und propagierten einen aggressiven Nationalismus. Noch deutlicher wird diese Stoßrichtung im Bericht der Allgemeinen Thüringer Landeszeitung Deutsch­land über die Bücherverbrennung in Niedergrunstedt. Hier sind nicht wie im Artikel in der Weimari­schen Zeitung allgemein vermeintlich „jüdische Schriftsteller“ das Feindbild, sondern es werden kon­krete Namen genannt. Hier ist ersichtlich, dass sich der Weimarer DHV bei seiner Veranstaltung am Vorbild der Bücherverbrennungen vom 10. Mai orientierte. Der Artikel führt folgende Autoren auf:

„Vicky Baum, Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Ernst Lissauer, Emil Ludwig, Erich Maria Remarque, Roda-Roda, Arthur Schnitzler, Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Franz Werfel und Stephan Zweig.“25

Typisch ist die auch vom Weimarer DHV-Ortsgruppenführer Held betonte besonders starke Ablehnung von Erich Maria Remarque und dessen Antikriegsroman Im Westen nichts Neues (1929)26. Und nicht nur inhaltlich folgt die Veranstaltung dem Zeitgeist.

„Überhaupt folgte das Ritual der Niedergrunstedter Bü­cherverbrennung am Abend des 21. Juni 1933 mit Feuersprüchen, Gedichten und Liedern der Programmatik der „Aktion wider den undeutschen Geist“.“27

Die Weimarer Ortsgruppierung des DHV scheint sich vor allem auf dieser „kultur- und literaturpoliti­schen“ Ebene engagiert zu haben:

Die Weimarer Sektion des DHV gehörte mit 1.165 Kaufleuten (Ende 1933) zu den mittleren bis großen Ortsgruppen. Trotz der verhältnismäßig hohen Mitgliederzahl finden sich im Vergleich zu anderen Ortsgruppen im „Bezirk Mitteldeutschland" insgesamt nur wenige Hinweise, die auf eine rege Betriebsamkeit im Weimarer DHV schließen lassen. Die recht spärlichen Meldungen aus Weimar zeigen dennoch eine eindeutige Tendenz: Nahezu alle Veranstaltungen des hiesigen DHV standen im Zusammenhang mit „kulturpolitischen" Akti­vitäten. So fand etwa nur wenige Wochen nach der Bücherverbrennung von Niedergrun­stedt unter der Ägide des Weimarer DHV-Bildungsobmanns eine literarische Veranstaltung des Verbandes in Weimar statt. Zum Thema „Junge Dichter im neuen Deutschland" las Reinhold Vesper, Führer der Thüringer Jungbuchhändler und Bruder des völkischen Schriftstellers Will Vesper, aus der Trilogie der „Sibirischen Tagebücher" von Edwin Erich Dwinger. Vesper hatte daneben einen entscheidenden Anteil am Aufbau der örtlichen Sek­tion Buchhandel innerhalb des Weimarer DHV gehabt. Auf seine Initiative hin fand auch im benachbarten Jena eine Veranstaltung zu den kulturpolitischen „Aufgaben des Buchhänd­lers in unserer Zeit" statt.28

Die Formulierung in dem Zeitungsartikel über die Bücherverbrennung legt die Annahme nahe, dass die Ortsgruppe Weimar des DHV schon öfter Sonnwendfeiern in Niedergrunstedt begangen hatte. Daran nahmen die Einwohner des Ortes offenbar 1933 wie auch zuvor regen Anteil, denn es heißt, der DHV „hielt seine übliche Sonnenwendfeier auf der Höhe bei Niedergrunstedt. Außer den Mitgliedern war wieder ein großer Teil der Einwohnerschaft Niedergrunstedts zu der Feierstunde erschienen.“ In der Presse fanden derartige Veranstaltungen vor 1933 allerdings keine Beachtung29, soweit sie tatsächlich in Niedergrunstedt stattgefunden haben sollten30. Grundsätzlich denkbar sind diese Feiern aber, auch in Hinsicht auf die in Niedergrunstedt damals vorhandenen beiden Gaststätten. Wenn somit also vorerst aus lokaler Sicht viele Fragen zur Bücherverbrennung 1933 in Niedergrunstedt unbeantwortet bleiben müssen, ist hingegen ihr symbolischer Gehalt augenfällig.

Der in Weimar seit jeher bestehende Spannungsbogen zwischen Provinzialität und Kultur scheint beispielhaft durch die Bücherverbrennung von Niedergrunstedt, die an der ländli­chen Peripherie Weimars stattfand, verkörpert. Während Weimar nach und nach zur „brau­nen" Hochburg avancierte, hielten seine Bürger an einem absurden Zerrbild der Klassiker­stadt fest.31

Im Zusammenhang mit den Bücherverbrennungen von 1933 wird häufig Heinrich Heine zitiert, der im Zusammenhang mit der Verbrennung missliebiger Bücher durch national gesonnene Studenten im Vor­märz durchaus prophetisch kritisierte: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, ver­brennt man auch am Ende Menschen.“32 Wie sehr Heines Befürchtung über 100 Jahre, nachdem er sie geäußert hatte, Realität werden sollte, dafür steht unter den zahlreichen Orten, an denen 1933 Bücher­scheiterhaufen errichtet wurden, gerade auch Niedergrunstedt. Wo auch immer das Feuer hier genau ge­brannt haben mag – heute erblickt man von beinahe jeder möglichen Stelle der Dorfflur den Glocken­turm des Buchenwaldmahnmals.

Während man heute vergeblich nach Spuren des Feuers von Niedergrunstedt sucht, legt das Krematorium von Buchenwald dagegen noch heute beredt Zeugnis von der zerstörenden Kraft flammenden Hasses ab.33

Die Spuren des Feuers gibt es nicht mehr, sein genauer Ort ist nicht mehr bekannt, und auch die Erinnerung daran war fast verschwunden. Seit mehreren Jahren wird aber inzwischen auch der Niedergrunstedter Bü­cherverbrennung alljährlich durch eine öffentliche Lesung gedacht. Weimarer Bürger lesen dabei jeweils zum Jahrestag der von den Nationalsozialisten verübten sogenannten „Aktion wider den undeutschen Geist“ im Mai auf dem Theaterplatz aus den Werken „verbrannter Autoren“. Initiatoren dieser Gedenkveranstaltung sind das Weimarer Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus und das Deutsche Nationaltheater.
In Niedergrunstedt fand am 20. Juni 2018 aus Anlass des 85. Jahrestages des Anschlages auf die Freiheit des Wortes eine Veranstaltung in der Mauritiuskirche statt. Die Initiative dazu ging von Johannes Bock vom Bür­gerbündnis gegen Rechtsextremismus aus. Veranstalter waren der Kirchgemeindeverband Buchfahrt-Le­gefeld, zu dem Niedergrunstedt gehört, sowie von der Literarischen Gesellschaft Thüringen. Im November 2018 wurde in Niedergrunstedt am Lyonel-Feiniger-Radweg am Hang in Richtung Gelmeroda ein Apfelbaum zur Erinnerung an das Autodafé „auf der Höhe bei Niedergrunstedt“ gepflanzt.

  • 1. Schmidt-Möbius, F.; Möbius, F.: Kleine Kulturgeschichte Weimars. Köln/Weimar/Wien 1998, S. 277; Merseburger, P.: Mythos Weimar. Zwischen Geist und Macht. Stuttgart 22003, S. 312ff.
  • 2. Debes, M.: Der Thüringer Tabubruch. Damals, 1924, in Weimar: Wie es dazu kam, dass die Nazis erstmals in Deutschland indi­rekt mitregierten, in: Thüringische Tageszeitung vom 6.2.2020.
    Dieser Artikel erschien als direkte Reaktion auf die Wahl des FDP-Landes- und Fraktionsvorsitzenden Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten durch die Abgeordneten von FDP und CDU gemeinsam mit jenen der rechtsextremen AfD am 5.2.2020. Unter Berufung auf den emeritierten Jenaer Professor für mitteldeutsche Regionalgeschichte Jürgen John legt der Arti­kel Parallelen und Unterschiede der Situationen von 1924 und 2020 in Thüringen dar und zeigt neben einem Foto des Nazis Artur Dinter eines des aktuellen Vorsitzenden des AfD-Landesverbandes und Chef des völkischen „Flügels“ der Bundes-AfD, Björn Höcke.
  • 3. Debes, Tabubruch in Thüringen...
  • 4. Zitiert nach Merseburger, Mythos Weimar..., S. 313.
  • 5. Merseburger, Mythos Weimar..., S. 324.
  • 6. Zitiert nach Schmidt-Möbius/Möbius, Kleine Kulturgeschichte…, S. 279.
  • 7. Vgl. zum Forschungsstand Treß, W.: Phasen und Akteure der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933, in: Schoeps, J.H.; Treß, W. (Hgg.): Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933. Hildesheim 2008, S. 9-28.
  • 8. B. Stenzel: Nationalsozialistische Bücherverbrennungen in Thüringen. Erfurt 2013. Nach der Bücherverbrennung von Nieder­grunstedt folgten in Thüringen weitere in Kahla (5.8.) und Altenburg (11.8.) sowie in Jena (26.8.). Anlass war dort das „einjäh­rige Regierungsjubiläum der nationalsozialistischen thüringischen Regierung“ (Jenaische Zeitung vom 28.8.1933). Im damals noch preußischen Erfurt verbrannten HJ und SA am 29. Juni missliebige Bücher während einer Sonnwendfeier (ebenda, sowie www.verbrannte-orte.de, 7.2.2020).
  • 9. Am 23.6.1933 erschien ein fast wortgleicher Artikel in der Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung Deutschland.
  • 10. Bißmann, D.: Niedergrunstedt bei Weimar, in: Schloeps/Treß, Orte der Bücherverbrennungen…, S. 675-683, hier S. 677. Biß­mann verweist aber gleichzeitig auch auf Zweifel an dieser These angesichts der politischen Entwicklung Weimars v.a. zwischen 1928 und 1932: „Schließlich war die Stadt politisch als eine der ersten im Reich von der NSDAP gewonnen worden.“ (S. 678).
  • 11. Bißmann, Niedergrunstedt…, S. 677.
  • 12. Treß, Phasen und Akteure…, S. 24
  • 13. Treß, Phasen und Akteure…, S. 23.
  • 14. In Niedergrunstedt gibt es keine bekannte Überlieferung zur Bücherverbrennung.
  • 15. Lange, G. : Die braune Gewerkschaft, in: Die ZEIT 22/2013. Zum DHV im Allgemeinen vgl. auch Hamel, I.: Völkischer Ver­band und nationale Gewerkschaft: der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893 - 1933. Frankfurt 1967; vgl. Biß­mann, Niedergrunstedt…, S. 676. .
  • 16. Mauersberger, V.: Hitler in Weimar. Der Fall einer deutschen Kulturstadt. Berlin 1999, S. 85.
  • 17. Neumann, T.: Heimat und Moderne. (Blätter zur Landeskunde Thüringens) Erfurt 1997.
  • 18. Bißmann, Niedergrunstedt…, S. 677.
  • 19. Bißmann, Niedergrunstedt…, S. 676.
  • 20. Ebenda.
  • 21. Hillesheim, J., Michael, E.: Lexikon nationalsozialistischer Dichter: Biographien, Analysen, Bibliographien. Würzburg 1993, S. 121f. Vgl. https://www.dhm.de/lemo/biografie/biografie-edwin-erich-dwinger.html, 2.2.2020. Dwinger wird bis heute durch die Junge Freiheit, das Sprachrohr der Neuen Rechten, als „vergessener Schriftsteller“ in Erinnerung gerufen und gewürdigt (http://www.jf-archiv.de/archiv99/239yy31.htm, 2.2.2020).
  • 22. Hillesheim/Michael, Lexikon nationalsozialistischer Dichter..., S. 423f.
  • 23. Stolberg-Wernigerode, O. zu: Neue deutsche Biographie, Bd. 22: Rohmer – Schinkel. Berlin 2005, S. 515f.
  • 24. Dieckmann, C.: Keiner kommt durch, in: Die ZEIT Nr. 1/2014.
  • 25. Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland vom 23.6.1933.
  • 26. Vgl. die diversen Angaben dazu bei Schloeps/Treß, Orte der Bücherverbrennungen…
  • 27. Stenzel, Bücherverbrennungen in Thüringen..., S. 22.
  • 28. Bißmann, Niedergrunstedt…, S. 676f.
  • 29. Vgl. Weimarische Zeitung und Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland in den Jahren 1930-1932.
  • 30. Inwiefern zu dieser Frage sowie zu den Weimarer DHV-Vertretern Held und Tarlatt noch Erkenntnisse aus eventuell noch vorhan­denen Unterlagen der DHV-Ortsgruppe Weimar zu erwarten sind, ist offen.
  • 31. Bißmann, Niedergrunstedt…, S. 681.
  • 32. aus: Almansor (1823), Vers 243, zitiert nach: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr (Düsseldorfer Heine-Ausgabe), Bd. 5. Hamburg 1994, S. 16.
  • 33. Bißmann, Niedergrunstedt…, S. 681.
Abb.: Artikel in der Thüringischen Landeszeitung vom 22.6.2018
Abb.: Artikel in der Thüringischen Landeszeitung vom 24.11.2018






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