Wie in anderen badischen Städten, darunter Karlsruhe, Pforzheim, Offenburg, Gengenbach oder Emmendingen, wurden auch in Kehl in der NS-Zeit öffentlich Bücher verbrannt. Schriftliche Quellen über dieses Ereignis liegen mit ganz wenigen Ausnahmen nicht mehr vor bzw. gelten wie z.B. zahlreiche Ausgaben der „Kehler Zeitung“ in diesem Zeitraum als verschollen. Dazu beigetragen hat der Umstand, dass Kehl nach Krieg und Evakuierung von 1945 bis 1953 französisch besetzt gewesen ist. Kehls Grenzlage am Rhein gegenüber von Straßburg hat allerdings wiederum dazu geführt, dass auch auf der anderen Rheinseite über die Bücherverbrennung in Kehl berichtet wurde – im Gegensatz zur gleichgeschalteten lokalen und Parteipresse nicht zu Propaganda-Zwecken und mit hetzerischer Absicht, sondern aus französischer Perspektive mit kritischem Außenblick.
Bei dem Ereignis in Kehl im Juni 1933 handelte es sich um eine der nicht-studentischen Bücherverbrennungen, die auf die zuvor von der Deutschen Studentenschaft organisierten Aktionen folgten: In den Maitagen 1933 waren in rund 20 deutschen Universitätsstädten als Höhepunkt der NS-Kampagne „Wider den undeutschen Geist“ die Werke zahlreicher Philosophen/-innen, Wissenschaftler/-innen, Lyriker/-innen, Romanautoren/-innen und politischer Schriftsteller/-innen verbrannt worden. Verantwortlich für die Nachahmung dieser Aktionen war in Baden der in der „Badischen Presse“ vom 12. Mai 1933 und in der badischen NSDAP-Parteizeitung „Der Führer“ vom 14. Mai 1933 veröffentlichte Aufruf des badischen Gebietsführers der HJ, Friedhelm Kemper, zu zwei „großen kulturellen Kampfwochen“ im Juni 1933:
„Die erste Woche soll aufräumen mit der Schmutz- und Schundliteratur, die unser Volk vergiftete. Im ganzen Lande sammeln die Führer der Hitlerjugend eine Woche lang sämtliche Schmutz- und Schundschriften, die wir ihnen durch ein besonderes Verzeichnis bekanntgeben werden. Die gesamte Bevölkerung, alle Bibliotheken werden aufgefordert werden, die jüdischen Schmutz- und Schundschriften abzuliefern. Am Ende dieser ersten Woche wird die Hitlerjugend in jeder badischen Stadt einen großen Demonstrationszug veranstalten, um bei einer Kampfrede gegen die Schmutz- und Schundliteratur den gesammelten Bücherdreck feierlich zu verbrennen. Wir wollen den Geist der Remarque, Emil Ludwig-Kohn usw. auf dem Scheiterhaufen der jungen deutschen Revolution verbrennen […].“1
Bereits im April 1931 hatte die NSDAP im Kehler Gemeinderat den Beschluss durchgesetzt, dass Erich Maria Remarques Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ aus der Volksbücherei in der Falkenhausenschule entfernt werden musste. Der damalige Bürgermeister Dr. Hans Luthmer vollzog diesen Beschluss nicht. Als ein Fraktionsmitglied der NSDAP das Buch schließlich eigenhändig aus der Volksbücherei holte und Dr. Luthmer übergab, übernahm er dieses demonstrativ in die Gemeindebibliothek.2
Wie in dem Aufruf von Friedhelm Kemper gefordert, sammelten auch in Kehl Jugendliche von HJ und BDM in den Tagen vor der Bücherverbrennung unliebsame, auf „Schwarzen Listen“ vermerkte Werke bei Haushalten, Buchgeschäften und Büchereien ein. Begleitet wurde die Sammlung von Aufrufen in der Kehler Zeitung und auch in der Schule wurde zur Abgabe von Büchern aufgefordert.3 Die Bücherverbrennung fand dann in Kehl am 24. Juni 1933 auf dem Marktplatz hinter dem (heute nicht mehr existierenden) alten Rathaus statt, am Tag der Sonnenwende. Die Sonnenwendfeier übernahm im Festkalender der NSDAP einen wichtigen Platz als Ersatz für christliche Feiertage.4
Der als Quelle für die Bücherverbrennung in Kehl zentrale Artikel, der am 26. Juni 1933 in den Straßburger Neuesten Nachrichten (SNN) erschien, gibt zunächst Aufschluss über die Umstände der Aktion in der kleinen rechtsrheinisch gelegenen Stadt. So hatten die NS-Organisatoren Ort und Zeit offenbar ursprünglich anders gewählt:
„Zum großen Leidwesen der Veranstalter war die bereits vor einiger Zeit geplante Bücherverbrennungsfeier ins Wasser gefallen; die ungünstige Witterung hatte den Regisseuren dieser Veranstaltung einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Man sah sich gezwungen, den Johannisabend als endgültigen Termin für die bizarre Feier anzusetzen, und man hat ihn, trotzdem es in Strömen goss, einzuhalten verstanden. Allerdings zeigte der deutsche Rhein auch dieses Mal seine Tücken, und der für die Abhaltung der imposanten Feier vorgesehene Spielplatz des Kehler Schwimmvereins war durch das Hochwasser des Flusses bedroht. So musste denn der sonst in den Abendstunden so stille Kehler Marktplatz herhalten, und in der Mitte des Marktplatzes wurde bereits am Samstagnachmittag ein riesiger Scheiterhaufen errichtet, der aus Reisig, Bretterabschnitten und altem Papier bestand. Sechs mit Hakenkreuzen auf weissem Feld geschmückte Fahnen ,zierten' den Ort der Handlung und als gegen halb neun bei strömendem Regen die von den Nationalsozialisten organisierte Kehler Jugend zur Feier der Sonnenwende und des Jugendfestes anrückte, hingen die Hitlerstandarten schlapp vom Regen von den Masten.“ (SNN, 26.06.1933)
Neben mehreren hundert Zivilisten versammelten sich auf dem Marktplatz insbesondere die herangeführte Parteijugend sowie Vertreter anderer NS-Organisationen und zahlreiche Fahnenträger auf einer Tribüne:
„Unter Trommelwirbel zogen sie heran: kleine Knirpse im Alter von 6 bis 8 Jahren, in braune Hemden gekleidet. Halbwüchslinge in brauner Uniform mit und ohne Hakenkreuzbinde. ‚Hitlermädels‘ in ihrem braunen Dress […] und schliesslich noch die Kehler Turn- und Sportvereine. Teils mit Schirmen bewaffnet, teils ohne solche, aber alle vom Regen bis auf die Haut durchnässt, so zogen die Kinder Kehls auf den Marktplatz vor den Scheiterhaufen, um ihre ‚Pflicht‘ zu erfüllen. Denn nur um eine solche konnte es sich handeln, weil gutwillig wohl niemand sein Kind bei einem solchen Wetter, nur mit einem Hemd bekleidet, zum ‚Feste‘ schicken würde. Aber im heutigen Deutschland herrscht das eiserne Muss.“ (SNN, 26.06.1933)
Deutlich wird sowohl in dem Zeitungsbericht als auch z.B. in der Zeitzeugenaussage von Walter Köhl5, der die Bücherverbrennung als Kind beobachtete, dass die anwesenden Zuschauer sehr verhalten das Treiben verfolgten: „Etwa 500 Zivilisten, die den Marktplatz umsäumten und die nur im Flüstertone ihre Eindrücke über die verregnete Feier auszutauschen wagten, verstummten, als das Kommando ,Stille' erscholl.“ (SNN, 26.06.1933) So stand es in der Straßburger Zeitung, und genau so erinnert sich auch unser Zeitzeuge: „… die Leute ringsum, die sind in kleinen Gruppen gestanden, drei, vier, fünfe […], die haben gemurmelt und wenn dann einer von den Uniformierten hin ist, dann war wieder Ruhe“ (Walter Köhl, Frühjahr 2022).
Der NSDAP-Ortsgruppenleiter und Kehler Bürgermeister Alfred Held forderte indes in seiner Ansprache die Opferbereitschaft der deutschen Jugend ein:
„In harter, abgerissener Rede […] rief der Kehler Nazistenführer die Jugend dazu auf, die Ketten, die das deutsche Volk in seiner Freiheit stören, zu sprengen. Wehrhaft und ehrhaft soll das deutsche Volk wieder werden! […] Die Aufgabe der Jugend muss es sein, sich bereit zu halten, ihr Leben fürs Vaterland zu opfern, denn nicht umsonst habe Minister Goebbels […] gesagt, dass die Jugend Deutschlands zu sterben bereit sei! Auch wenn jeder selbst tausend Leben hätte, so würde er alle diese Leben jederzeit fürs Vaterland opfern.“ (SNN, 26.06.1933) Joseph Goebbels hatte bei der Bücherverbrennung vor 70.000 Zuschauern auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 als Reichspropagandaminister die zentrale ‚Feuerrede‘ gehalten.
Daneben war der Vorgang der Bücherverbrennung selbst naturgemäß der zentrale Programmpunkt der Veranstaltung, der allerdings durch das schlechte Wetter überschattet wurde.6 Der historische Zeitungsbericht und die Zeitzeugenaussage von Walter Köhl liefern hier Hinweise zum Ablauf des Geschehens auf dem Marktplatz:
„Da haben wir festgestellt: Da sind zwei Berge, einer mit Büchern und der andere war [das] Feuer [in dem bereits Bücher lagen], aber die haben nicht recht gebrannt, weil sie noch zugeklappt waren und da waren sie wie Briketts. Und da waren drei oder vier Mann da, zwei davon in Uniform […], die haben das dann bemerkt und haben die Bücher zerrissen und haben’s draufgeschmissen, dann ist das Feuer besser in die Höhe. Und der eine, der sie hingeworfen hat, hat immer einen Spruch dazu gesagt, aber ein Wort fehlt mir […]: ‚Verbrenne du … Geist‘. […] Und der andere, der ihm das Buch gegeben hat, der […] hat dann den Titel gelesen und den Verfasser. […] Und einer von diesen Männern kam dann [zu mir], dann hat er gesagt […]: ‚Wir verbrennen jüdische Bücher von jüdischen Verfassern…“ (Zeitzeugenaussage Walter Köhl, 2022).
„Ein Rufer trat vor und sprach die Worte: Gegen den Verrat am deutschen Soldaten. Ich übergebe der Flamme als erste undeutsche Schmähschrift das verruchte Buch von Erich Maria Remarque: ,Im Westen nichts Neues. Undeutscher Geist verbrenne!‘ Noch weitere drei Rufer traten, um das ihnen beigebrachte Sprüchlein herzusagen, vor den Scheiterhaufen und warfen marxistische, antireligiöse und allgemein unmoralische Bücher ins Feuer, die als ,von Juden herrührende Machwerke' bezeichnet wurden. Und jeder dieser nächtlichen Rufer beschloss seine Worte mit der Phrase: ,Undeutscher Geist, verbrenne!‘“ (SNN, 26.06.1933)
Der kritische Bericht der Straßburger Neuesten Nachrichten zieht schließlich ein ernüchterndes Resümee, was den Erfolg der Aktion betrifft: „Das Sonnenwendfest der deutschen Jugend […] hat nicht den erwarteten Erfolg gehabt. Denn stumm, wie die Menge auf dem Festplatz vor dem lodernden Scheiterhaufen gestanden hatte, so ging sie auch auseinander. Das vom Festleiter proklamierte ,Heil Hitler' fand nur unter der uniformierten Jugend Widerhall. Die friedlichen Bürger von Kehl beeilten sich, in die warme Stube zu kommen, und die Jugend wird wohl noch lange an den verregneten Abend denken müssen, an dem sie den ,undeutschen' Geist verbrannte…“. (SNN, 26.06.1933)
Hinweise gibt es allerdings darauf, dass die Bücherverbrennung auf dem Marktplatz nicht die einzige organisierte Aktion dieser Art in der NS-Zeit gewesen ist. So findet man in der 1995 veröffentlichten Chronik des Kehler Einstein-Gymnasiums, die anlässlich der 100-Jahr-Feier der Schule erschien, die Passage:
„Augenzeugen berichten, daß es eine interne Bücherverbrennung auch im Hof der Falkenhausenschule gegeben hat. Ähnliches ist von der Oberrealschule nicht bekannt.“7 Gestützt wird dies auch durch die Mitschrift einer Zeitzeugenaussage von Fritz W. (Jg. 1919), die sich im Kehler Stadtarchiv erhalten hat: „Die Bibliothek der Falkenhausenschule wurde ‚gereinigt‘. […] Die Bücher wurden auf den Schulhof gebracht. Die Schülerinnen und Schüler mussten sich im Kreis vor dem Scheiterhaufen aufstellen und ‚Die Flamme empor…‘ singen. Nach kurzer Ansprache wurden […] die Bücher verbrannt. Geleitet wurde die Aktion von den Lehrern Holl und Hetz […].“8 Sonstige Quellen liegen aber zu diesem Ereignis nicht vor.
Dieser Text wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Uli Hillenbrand - Oberstudienrat am Einstein-Gymnasium in Kehl und Leiter der Zeitzeugen-AG