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Halle a.d. Saale

12. Mai 1933 , Universitätsplatz
Zwei Tage nach den landesweiten Veranstaltungen brannten in Halle die Bücher im Rahmen der „Aktion wider den undeutschen Geist“.
Gedenkort: Gedenkplatte auf dem Universitätsplatz

Die Bücherverbrennung in Halle/Saale

1. Gefahr in Verzug

Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 erfolgt zur Festigung der Macht der Nationalsozialisten die sogenannte „Gleichschaltung“1 aller Bereiche des öffentlichen Lebens. So sollen auch die Schulbüchereien nach geschichtlich nicht geeigneten Werken durchgesehen werden, verfügt der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Bernhard Rust am 18. Februar 1933. Gleichzeitig werden die Ortsgruppen der NSDAP2 dazu angehalten Volksbüchereien aufzubauen: „Den Volksbüchereien kommt im Moment eine ganz besondere Bedeutung zu.“ Wieso haben die neuen Machthaber eine solche Angst vor der Macht der Bücher? Ray Bradbury bringt es in seinem Roman „Fahrenheit 451“ auf den Punkt: „Bücher machen Menschen unbeherrschbar“. Man kann nicht in die Köpfe der Menschen hineinschauen. Angst und Abschreckung scheinen die geeigneten Mittel die Köpfe niederzuhalten, aber die „todsicheren“ sind Vernichtung und Tod.

Ab Mitte Februar 1933 also werden die Schulbüchereien in Halle genötigt, ihren Bestand durchzusehen. Alle Schulen haben Meldung zu machen. In den meisten Fällen fällt die Antwort leicht gereizt aus, wie die von der Volksschule für Knaben und Mädchen am Waisenhausring Halle: „In unserer Schulbücherei sind niemals Bücher vorhanden gewesen und sind natürlich auch heute keine vorhanden, deren Inhalt im Widerspruch zu dem Erlaß vom 31. Januar 1933 stünde.“3 Viele Schulen schicken sogar nur die lapidare Auskunft „Fehlanzeige“. Später werden sie sich das nicht mehr trauen. Später werden Listen erstellt. Heerscharen von Beamten sind in den Ministerien, in den Regierungsbezirken, in den Schulämtern von 1933 bis mindestens 1943 damit beschäftigt, „Schwarze Listen“ mit Namen und Werken unerwünschter Autoren zu erstellen, weiter zureichen und die Entfernung der verbotenen Lektüre zu kontrollieren. Gleichzeitig wird ein neuer Bestand aufgebaut, dazu dienen die „Weißen Listen“. Es gibt Anweisungen, bestimmte dem „deutschen Geist“ dienliche Bücher zu kaufen, gelegentlich zu einem günstigen „Volkspreis“.

2. Die hallesche Studentenschaft

An die Spitze der Säuberungsaktion „wider den undeutschen Geist“4 stellt sich die deutsche Studentenschaft. In Halle spielen dabei einige Studenten der vereinigten Friedrichsuniversität eine unrühmliche Rolle, sie meinen sich besonders hervortun zu müssen. Damit knüpft die braune Studentenschaft an den „Universitätsskandal“ im Herbst 1931 an, den der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund anführt. Der Prorektor der halleschen Universität, Gustav Aubin, hat den Studentenbund im Februar 1931 verbieten lassen. Doch der bildet sich als „Kampfzelle der NSDAP“ im Herbst neu. Als der Theologe Günther Dehn im Wintersemester 1931/32 mit Unterstützung durch Aubin und Kultusminister Adolf Grimme zum Professor für praktische Theologie nach Halle berufen wird, reagieren die nationalsozialistischen Studenten mit einem Aufruf zum Boykott.

Deutschlandweit liest man in den Zeitungen „über den Sturm in der Kaffeemühle“. Kaffeemühle wurde das Hauptgebäude der Universität nach seinem Aussehen genannt. Der „rote Pfarrer“ Dehn hat sich in Berlin mit der proletarischen Großstadtjugend beschäftigt und darüber auch ein Buch geschrieben. Doch den Zorn der nationalsozialistisch gesinnten Studenten erregt vor allem der Umstand, dass Dehn das Aufstellen von Gedenktafeln für Gefallene des Ersten Weltkrieges in Kirchen kritisiert. Daraus konstruiert man das Gerücht, Dehn habe die Gefallenen „Mörder“ genannt, er sei Pazifist und rufe zur Kriegsdienstverweigerung auf.
Die Vorlesungen des Theologen werden gestört und schließlich unter Polizeischutz gehalten, während auf dem Campus 1.000 empörte Menschen zusammenkommen. Einige Studenten drohen das Sommersemester 1932 zu boykottieren und Halle zu verlassen.
Unter dem Druck der nationaldeutschen Studentenschaft wird im April 1933 Dehn in den Ruhestand versetzt und Prorektor Aubin beurlaubt.

Am 21. April 1933 weist der preußische Kultusminister die „Gleichschaltung“ der Hochschulen an. Der neue Rektor der halleschen Universität, Hermann Stieve, Professor der Anatomie (er hatte herausgefunden, dass übermäßiger Kaffee und Alkoholgenuss die Fruchtbarkeit beeinträchtigt), wird am 3. Mai gewählt. Am 8. Mai tritt ein neues Studentenrecht in Kraft.
Bereits am 13. April ist in der Mitteldeutschen Nationalzeitung zu lesen, dass die deutsche Studentenschaft vom 12. April bis zum 10. Mai einen „Aufklärungsfeldzug wider den undeutschen Geist“ veranstaltet. Es wird auf einen öffentlichen Anschlag verwiesen, der in zwölf Thesen den treibenden Geist dokumentiert. Darin heißt es, die deutsche Hochschule solle zum „Hort des deutschen Volkstums“ gemacht werden, eine „Auslese von Studenten und Professoren nach der Sicherheit des Denkens im deutschen Geistesleben“ vorgenommen werden, Die Zensur wird gefordert. Die jüdische Bevölkerung mit den Worten „der Jude“ und „unser Widersacher“ gebrandmarkt. Endlich soll der „undeutsche Geist aus den öffentlichen Bibliotheken ausgemerzt“ werden.

In der Saalezeitung vom 15. April 1933 wird mitgeteilt, dass sämtliche Befugnisse der Deutschen Studentenschaft Halle in die Hände eines studentischen „Zentralausschusses zur Durchführung der nationalen Revolution“ gelegt wird. Der Beschluss ist unterzeichnet vom Führer der halleschen Studentenschaft Hans Schimmerohn und dem Studenten Reinhart von Eichborn, der sich „Leiter des Hauptamtes für politische Erziehung“ nennt.

Als Argument wird auch der erfolgreiche Kampf gegen Pfarrer Dehn angeführt. Als Aufgaben hat sich der Zentralausschuss gestellt: Jüdische und marxistische Dozenten festzustellen sowie die, die den „Durchbruch der nationalen Revolution verzögern“. Außerdem sollten Bücher, Schriften und Äußerungen hallescher Dozenten, „deren Tendenz deutschem Denken religiöser, sittlicher, ethischer und völkischer Hinsicht zuwiderläuft“ festgestellt werden.

Am 25. April 1933 teilt der Zentralausschuss, der wörtlich zitiert wird, in der Saalezeitung mit, dass jeder Bürger aufgefordert sei, seine eigene Bibliothek von „jüdischen und marxistischen Zersetzungsschriften“ zu „befreien“. Weiter: „Jeder Deutsche sorgt dafür, daß Schund und Schmutzliteratur aus Büchereien und Buchhandel verschwinden“. Es bleibt allerdings bisher im Ermessen des Einzelnen zu beurteilen, was Schund und Schmutzliteratur ist. Und andere nach Belieben zu denunzieren. Der Titel dieses Aufrufes lautet bezeichnenderweise: „Gegen Denunziation — für positive Arbeit“. Dass es noch keine juristische Handhabe gibt, liest sich in dem Artikel so: Die Aktion der Säuberung finde „unter Billigung der zuständigen Instanzen des Staates“ statt.

Am 24. April 1933 schreibt der Student Reinhart von Eichborn im Namen der deutschen Studentenschaft einen Brief an „alle Büchereien und Bibliotheken in Halle“. In der Marienbibliothek Halle ist dieser Brief in der Geschäftspost aufbewahrt. Darin bezeichnet sich Eichborn als „Amtsleiter der Abteilung II; Kulturamt, des studentischen Zentralausschusses zur Durchführung der nationalen Revolution“. In dieser amtsanmaßenden Funktion „fordert“ er auf, „bis Dienstag, den 25. April 1933 18 Uhr uns ein Verzeichnis Ihrer Leihbücherei zukommen zu lassen.“

Der Brief dokumentiert den Geist und die aktionistische Vorgehensweise der braunen Studentenschaft. Zum einen: Eine der ältesten christlichen Bibliotheken Deutschlands, fast 400 Jahre alt, als „Leihbücherei” anzusprechen ist für einen Studenten peinlich genug. Aber was will der „Zentralausschuss“ mit einem Verzeichnis von etwa 30.000 Bänden allein dieser einen Bibliothek? (Abgesehen davon, dass das Schreiben des Verzeichnisses eine Arbeit von über einem Monat ist.) Und allein die Buchtitel sagen ja nicht immer etwas darüber aus, was in den Büchern geschrieben steht. Der Brief ist am 24. April geschrieben, die Frist auf den 25. gesetzt. Hier ist hysterischer Aktionismus am Werk. Das muss auch den Aktivisten des „Zentralausschusses“ aufgegangen sein und sie ändern die „Taktik“. Nun gehen Studenten in Buchhandlungen und Bibliotheken und befragen Buchhändler und Bibliothekare, welche Bücher jüdischer, marxistischer und sonstig „volkszersetzender“ Autoren am meisten gekauft oder ausgeliehen werden.

Gleichzeitig wird in Berlin eine Liste, die der Bibliothekar Wolfgang Herrmann über Jahre zusammengestellt hatte (diese Bücher sollten nicht mehr ausgeliehen werden) vom „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ an die Studentenschaften der Hochschulen verteilt. Diese Liste wird in Halle mit den Umfrageergebnissen erweitert und „Vorläufiger hallischer Generalindex“ genannt und enthält so einige Namen, die in der ersten Berliner Liste fehlen: Heinrich Heine, Klabund, Frank Wedekind, Albert Ehrenstein, Carl Zuckmayer und Friedrich Hollaender.

Ab dem 2. Mai sucht eine Gruppe von Studenten und Kriminalbeamten unter Führung Reinhart von Eichborns Buchhandlungen und Bibliotheken auf und sammelt die „volkszersetzende Lektüre“ ein. Ob dieses Vorgehen in Halle wie in Berlin mit „Musik und viel Humor“ vonstatten geht, wie die „Mitteldeutsche Illustrierte“ aus Berlin berichtet, ist nicht bekannt. Doch muss es Eichborn geschwant haben, dass dieses Vorgehen rechtlich nicht abgedeckt ist. Er wendet sich am 5. Mai 1933 nach Berlin mit dem Vorschlag an die eben neu geschaffene Geheime Staatspolizei, „Schwarze Listen“ zu erlassen. Es geht auch darum, bisher getroffene Maßnahmen nachträglich zu legitimieren. Deshalb heißt die in Halle kursierende Liste auch „Vorläufiger Hallischer Generalindex“. Interessanterweise wird hier ein Begriff der katholischen Kirche verwendet, auf den Index kamen Bücher, deren Inhalt die Gläubigen vermeintlich sittlich gefährden konnte. Auf dem halleschen Index sind 140 Autoren erfasst. Die Kommission, die den Index zusammengestellt hatte, besteht aus „Mitgliedern des Kampfbundes für deutsche Kultur, dem Gaukulturwart der NSDAP, Angehörigen der Universität und einem nationalsozialistischen Buchhändler“, schreibt der Historiker Henrik Eberle.5

Das Beispiel hallescher Generalindex lässt die Vermutung zu, dass in Halle schärfer „gesäubert“ wird als in Berlin. Bestätigt wird dies durch „von Eichborns selbstgefälliger, aber doch konkreter Schilderung, dass die Initiative zur Verbrennung der Bücher nicht von Halle ausging, sondern von Berlin“, so Eberle.

Der Haupt-„Antreiber“ Eichborn holt sich Deckung beim halleschen Polizeipräsidenten Roosen, bei dem die Verantwortung für die „Sicherstellung“ der Bücher liegt. Vom 2. bis zum 6. Mai suchte ein Trupp aus Studenten und Kriminalbeamten unter Führung Reinhart von Eichborns die betreffende Bücherei oder Buchhandlung auf und „bat“ um die Aushändigung der Bücher. Bis auf einen einzigen Fall verläuft die Aktion reibungslos. (Den Namen des mutigen Buchhändlers, der sich der Aktion in den Weg stellte, nannte Berichterstatter von Eichborn nicht.) (Eberle)

Am 8. Mai versammelt Eichborn im Namen der nationalgesinnten Studentenschaft die halleschen Buchhändler und Büchereibesitzer. In Gegenwart von Polizeibeamten und des Polizeipräsidenten Roosen geben die Buchhändler und Büchereibesitzer ihr „Ehrenwort“ — „kein Buch der auf dem Index genannten Autoren zu verleihen oder zu verkaufen“. Dass einige Buchhandlungen nun über einen „Giftschrank“ verfügen, der für sichere Kunden dennoch dieses oder jenes schöne verbotene Buch bereithält, mutmaßt ein hallescher Buchhändler, der 2007 dazu befragt wurde.

Am 9. Mai 1933 meldet die „Saalezeitung“ das Ergebnis der Säuberung: „Keine volkszersetzende Literatur mehr“. Eine „besondere Kommission“ habe die am „meisten gelesenen Bücher jüdischer, marxistischer und sonstiger volkszersetzender Autoren“ festgestellt. Und im Laufe der „letzten acht Tage ein vorläufiger hallischer Generalindex marxistischen, jüdischen, pazifistischen und sonstigen volkszersetzenden Schrifttums aufgesetzt“. Einige „Schwierigkeiten“ bei der Aktion werden zugestanden, aber die Versammlung strahlt „einmütige Geschlossenheit“ aus. Der Sitzung wird durch die Anwesenheit des Polizeipräsidenten eine „besondere Note“ verliehen. Hier ist man versucht zu glauben, der namenlose Autor dieses Artikels kommentiere durch seine Wortwahl, mache sich lustig. Schließlich wird im Artikel die „feierliche Verbrennung der beschlagnahmten Schriften“ für Freitag den 12. Mai angekündigt. Der deutschlandweite Termin am 10. Mai ist aufgegeben, „da der hallesche Kampfbund aus besonderen Gründen nicht in der Lage ist, an der Verbrennungsaktion teilzunehmen.“? Die tatsächlichen Gründe wären eine genauere Untersuchung wert.

Im halleschen Stadtarchiv findet sich dieser Zeitungsartikel auf ein Blatt geklebt, auf dem mit Schreibmaschine geschrieben steht: „Rektor Völker bittet, der Schule den halleschen Generalindex von Büchern, die aus den Bibliotheken zu entfernen sind, mitzuteilen, damit die Schulen anhand dieser Übersicht die Lehrerund Schülerbüchereien durchsehen können.“ Vermerk 11. 5. 33.

Wieder ist es zu schnell gegangen. Hier reagiert ein verunsicherter Rektor, der Angst hat, etwas verpasst zu haben, und bittet von selbst um den Index. Aber er verpasste nichts: Am 12. Mai, dem Tag der halleschen Bücherverbrennung, schreibt die dem Magistrat unterstellte Schulverwaltung an den Polizeipräsidenten und bittet um den Index für alle Schulen: „Wir beabsichtigen, das Verzeichnis den Schulen zuzuleiten zur nochmaligen Durchsicht und Überprüfung der Klassen und Lehrerbüchereien.“

3. Die Bücherverbrennung in Halle/Saale

Die Bücherverbrennung in Halle wird sich kaum von denen in den anderen Universitätsorten unterschieden haben. Als „akademische Feier“ getarnt, läuft diese Demonstration der Menschenverachtung und des Ungeistes unter Anwesenheit der inzwischen gleichgeschalteten Korporationen, das Braun der nationalsozialistischen Partei zugehörigen Studenten ist schon überwiegend. Und in Anwesenheit des Bürgermeisters, des Rektors, der Professoren und des Polizeipräsidenten und der Kreisleitung der NSDAP. Eine SA-Kapelle spielt „vaterländische Weisen“. Die Landesfilmstelle nimmt die unheimliche Veranstaltung auf. Der Film ist in der Gedenkstätte „Roter Ochse“ in Halle heute zu sehen. Im 76. Jahr nach der Bücherverbrennung wird am 9. November 2008 endlich eine Gedenktafel am Campus der halleschen Universität eingeweiht.

Wie ging es vor sich? Zur Beseitigung „undeutschen Schrifttums“ wird ein riesiger Scheiterhaufen auf dem Campus entzündet, in den symbolisch und von „Feuersprüchen“ begleitet, die Werke einzelner verworfener Autoren in die Flammen geschleudert werden. Als letzter ruft der Polizeipräsident seinen Feuerspruch:
„Verbrennt ihr Flammen, was faul und schlecht!
Es steig aus der Asche, was deutsch ist und echt!“
„Scheiterhaufen des Ungeistes“ und „Reinigung durch sühnende Flammen“ titeln die halleschen Zeitungen am nächsten Tag.

Welche Bücher welcher Autoren wurden verbrannt?
Henrik Eberle soll hier ausführlicher zitiert werden: „Betroffen waren Pazifisten (Henri Barbusse, Friedrich Wilhelm Foerster, Emil Julius Gempel, Berta von Suttner, Erich Maria Remarque), Sozialdemokraten (Eduard Bernstein), deutsche Kommunisten (u.a. Karl Marx und Willi Münzenberg), die russischen Bolschewiken (Nikolai Bucharin, Ilja Ehrenstein, Maxim Gorki, Griorgi Sinowjew, Josef Stalin), sowie zeitgenössische linke oder jüdische Literaten (unter ihnen Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Egon Erwin Kisch, Klabund, Heinrich Mann, Gustav Meyrink, Theodor Plivier, Ernst Toller, Arnold Zweig). Dazu kamen Bücher über die Weimarer Reichsverfassung, Anthologien russischer Erzähler, soziologische Werke und völkerrechtliche Erörterungen, soweit sie dem Gedanken auf Revanche widersprachen. Merkwürdig oder bezeichnend muten in der Rückschau die Ausnahmen an. Von Karl Kautsky fand Gnade vor den Augen der Zensoren allein „Bolschewismus in der Sackgasse“. Lenin gehörte ins Feuer mit Ausnahme seines Buches „Der linke Radikalismus — die Kinderkrankheit des Kommunismus“. Alles von Erich Kästner wurde verbrannt, allein „Emil und die Detektive“ blieb in den Büchereien.“

In den privaten Bibliotheken, sofern man der Aufforderung gefolgt war, in den Schulbüchereien, vor allem aber in den öffentlichen Bibliotheken und in den Buchgeschäften hat sich eine empfindliche Lücke aufgetan. Die Werke von 140 Autoten fehlen!

Nur wenige Tage nach der Bücherverbrennung meldet sich der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels zu Wort. Er spricht bei der Kantatefeier des Börsenvereins des deutschen Buchhandels zu den Buchhändlern: „Gerade in Zeiten des seelischen Druckes und größter Not braucht das Volk Entspannung und da hat das deutsche Buch einzusetzen. Die neue Regierung hat Verleger und Buchhändler einer Reihe von Aufgaben enthoben. Sie brauchen die Bücher der letzten 14 Jahre nicht mehr zu drucken und zu vertreiben. Wir werden den Zeitgeschmack ändern. Man braucht sich dem Geschmack nicht zu beugen. Er ist auch erziehbar. ...”' Vorschläge, welche Bücher zur Entspannung gebraucht werden, macht er nicht. Eigentlich sagt er nur: es gibt eine Lücke, die Verleger und Buchhändler sind so gut wie arbeitslos, und das was in die Lücke kommt, muss entspannen.

4. Listen über Listen

In den folgenden Jahren „hagelt“ es ständig neue Listen. Bereits am 11. September 1933 fordert der Regierungspräsident erneut Schulen und Kirchen auf, „ungeeignete Bücher“ — welch vorsichtige Formulierung — auszusortieren. Wieder melden die Schulen den Vollzug. Auch trotzig, wie wieder die Volksschule für Knaben und Mädchen am Waisenhausring: „Eine Säuberung der Büchereien hat nicht stattfinden brauchen, weil wir in den letzten 14 Jahren keine Schriften zersetzenden Inhalts angeschafft haben...“ Sprich — wir wussten schon immer, was gut für unsere Kinder ist. Die Mädchenschule in der Torstraße hat „55 Bände ausgelesen, die ich, wenn auch nicht für volkszersetzend — so doch für überflüssig, irreführend und abwegig in ihren Grundideen halte“, so der Schulleiter.

Wohin mit den aussortierten Büchern? Sie werden zunächst in einem verschlossenen Raum der Ratsbücherei untergebracht und nochmals durchgesehen. 90 „Stück Bücher“ gehen an das NS-Museum, 195 „Stück Bücher“ in die „secretierte“ Abteilung des Revolutionsarchives. In eine Art „Giftschrank“ der Bücherei am Hallmarkt kommen 46 Bücher, die auf der Schwarzen Liste stehen. Bei den übrigen 682 Büchern in 17 Paketen „scheint eine Vernichtung geboten“. Die Kröllwitzer Papierfabrik hat sich zu einer kostenlosen Verbrennung bereiterklärt. 1935 werden auf dem Gelände der „Cröllwitzer Papierfabrik in Gegenwart des Büchereileiters Klapp“ die Bücher verbrannt.

Ab 1935 ist die Reichsschrifttumskammer für die Listen verantwortlich. Diese tragen übrigens den Aufdruck „Streng vertraulich, nur für den Dienstgebrauch“. Da nun auch ausländische Literatur, Zeitschriften und Sammelwerke gelistet werden, beträgt dieser Index (pro Seite etwa 30 Werke) 140 Seiten. Ständig werden diese Listen erweitert, manchmal wöchentlich." 1939 schreibt der Landrat des Saalkreises an die Bürgermeister: „In der Regel ist das vor 1900 erschiene Schrifttum, mit Ausnahme der klassischen Jugendschriften (Märchen, Sagen, Robinson u.ä.), als unbrauchbar und überholt anzusehen“. Das sieht fast nach einer eigenmächtigen Interpretation der Listen aus, nach dem Motto: „Lieber zu viel als zu wenig.“ Entweder läuft die Säuberung unbefriedigend ab oder die Reichsstelle für das Schul und Unterrichtsschriftwesen traut den anderen Stellen nicht — 1941 gibt sie wieder eine „Liste jüdischer und emigrierter Autoren“ „Nur für den Dienstgebrauch“ heraus. Dabei geschehen auch „Irrtümer“, das heißt, jemand gerät auf die Liste, obgleich seine Werke nicht verboten sind. Diese Irrtümer werden dann umständlich widerrufen, wie in der letzten dieser Listen vom Februar 1943, die ich im Landeshauptarchiv in Merseburg gefunden habe. Eine Berichtigung erfolgt am 24. November 1943, darin wird Dr. Ilse Reicke mit ihrer Mitgliedsnummer in der Reichsschriftstumskammer genannt. Es handelte sich „um ein Versehen“, Auf ein anderes „Versehen“ macht die Gaufrauenwalterin Kirchner die Gauwaltung der deutschen Arbeitsfront Abteilung Propaganda aufmerksam. Sie hat in einem Fortbildungsbuch der deutschen Einheitskurzschrift!” einen Abschnitt über Moses Mendelssohn gefunden. Sie findet es vom Direktor der Städtischen Handelsschule Halle „unverantwortlich“, dass dieser Absatz in der Neuüberarbeitung von 1932 stehengeblieben ist. Sie glaubt nicht, „daß es angebracht ist, unserer zum Teil schon im Berufsleben stehenden Jugend den Juden in solchem Licht zu zeigen, während wir uns auf der anderen Seite mühen und plagen, um den Volksgenossen ein möglichst klares Bild des wirklichen Juden zu geben.“ Um ihre Denunziation komplett zu machen, schiebt sie am Schluss des Briefes nach: „Ob das nicht etwas für den Stürmer wäre? Heil Hitler!“

Ein Schreiben der halleschen Firma Fr. Rein, Rohprodukte/ Alteisen/Altpapier/Metalle vom 12. Januar 1942 an die Gewerbliche Berufsschule zeigt, was mit aussortierten „volkszersetzenden“ Büchern geschieht: „Empfing durch Selbstabholung 740 kg holzartigen Bücherdruck zum Einstampfen p. 100 kg RM 1,90“. Der Betrag von RM 14,06 wurde bar bezahlt. Wenn man davon ausgeht, dass die Bücher im Schnitt 500 Gramm wiegen, dann hätte die Firma pro Buch weniger als einen Pfennig bekommen: Der Materialwert eines Buches. Am 23. Mai 1933 kann man in der Saalezeitung lesen, dass 20 hallesche studentische Verbindungen geschlossen der NSDAP beigetreten sind. Damit ist Halle an der braunen Spitze sämtlicher deutscher Universitäten.

Simone Trieder

bereitgestellt von Simone Trieder aus dem Buch: Verboten, verschwiegen, verschwunden von Birgit Herkula und Simone Trieder.







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